- Experten gehen von fünf Prozent Kaufsüchtigen in der Schweiz aus.
- Trotz der hohen Zahl ist die therapeutische Versorgungslage prekär.
- Experten möchten, dass Kaufsucht als Krankheit klassiert wird.
- Der Trend zum Online-Shopping verschärft das Problem.
In ihrer Wohnung stapeln sich Dutzende Schuhe und Kleider, die sie noch nie getragen hat. Yvonne Reichensteiner kauft mehr als sie braucht. Kaufen ist für sie keine Willensfrage, sondern eine Sucht. Ein Leiden, das ihren Alltag bestimmt. «Wie ein Alkoholiker, der trinkt, bin ich mit Kaufen beschäftigt», sagt sie gegenüber der «Rundschau».
Ihr Drang: Sie ersteigert exklusive Secondhand-Kleider im Internet. Bis zu 80'000 Franken hat die 53-Jährige dafür bereits ausgegeben. Die Möglichkeit des Onlinehandels ist dabei ein Brandbeschleuniger: Sie muss das Haus nicht verlassen, um ihre Sucht zu stillen. «Man wird überall dazu verführt zu kaufen – etwa durch personalisierte Werbung. Die Versuchung ist riesig. Die Wirtschaft macht viel, damit wir noch mehr kaufen», sagt die Mutter zweier erwachsener Kinder.
«Unbezwingbarer Impuls»
Können Kaufsüchtige nicht kaufen, leiden sie unter Entzugserscheinungen, erklärt Jana Stenger. Die Psychologin leitet die einzige Therapiegruppe für Kaufsüchtige in der Schweiz in Basel. «Sie werden unruhig, aggressiv, depressiv oder leiden unter Schlafstörungen. Es ist ein unbezwingbarer Impuls.»
Kaufsucht gilt offiziell nicht als Krankheit, für Fachleute wie Stenger aber schon. «Kaufsucht ist eine chronische Hirnerkrankung, weil man nachweisen kann, dass sich Hirnstrukturen verändern.» Sie plädiert dafür, Kaufsucht, im Fachjargon Oniomanie genannt, als Krankheit zu anerkennen. «Man würde mehr über das Störungsbild forschen und auch mehr Betroffene erreichen. Denn es gibt einen Unterschied zwischen Genuss und Sucht: Kaufsüchtige kaufen immer weiter, obwohl es ihnen massiv schadet.»
Neue Studien fällig
In der Schweiz sollen fünf Prozent unter Kaufsucht leiden. Die Zahlen basieren auf einer Studie aus dem Jahr 2003. Seither fehlen aktuelle, repräsentative Erhebungen, Fachleute gehen heute von einer höheren Anzahl Betroffener aus. Die Zahlen schrecken auf: Denn das ist ein Vielfaches mehr als es hierzulande etwa Glücksspiel- oder Heroinsüchtige gibt. Dennoch ist Kaufsucht in der Gesellschaft und in der Politik kaum ein Thema. Im Gegenteil: Mit Einkaufsmeilen, Rabattschlachten oder Marketingcoups will die Wirtschaft das Shoppen ankurbeln. Kaufen ist erwünscht.
Kaufzwang kontrollieren
Das spürt auch Yvonne Reichensteiner. «Für Kaufsüchtige ist es schwierig, abstinent zu leben. Man muss ja kaufen, um zu überleben», sagt sie. In der Therapie hat sie gelernt, ihre Impulse zu kontrollieren, ihren Kaufzwang zu mindern.
Auch Silvia Wanzenried hat es dank einer Therapie geschafft, ihr Leben zu ändern. Die Kaufsucht hat sie in die Psychiatrie gebracht und ihre Familie fast zerstört. Ihr Hobby, das Basteln und Dekorieren, führte sie in eine gefährliche Abwärtsspirale. Sie kaufte immer mehr Ware ein, was zwar kurzfristig für Euphorie sorgte, aber zunehmend zu schlechtem Gewissen und Stress führte.
Erste Selbsthilfegruppe
Bis zu 50'000 Franken hat Silvia Wanzenried für ihre Sucht ausgegeben. Der Zwang zu Kaufen war stärker als die Vernunft: Sie nahm einen Kredit auf im Namen ihrer Tochter und fälschte die Unterschrift ihres Mannes, um an seine Ersparnisse zu kommen. Die Familie hat ihr mittlerweile verziehen.
Silvia Wanzenried sagt heute: «Schritt für Schritt habe ich gelernt, mich vom Drang zu lösen. Die Sucht ist immer noch da, aber ich weiss, wie damit umgehen.» In der Therapie war sie zeitweise mit Alkoholsüchtigen und Drogenabhängigen zusammen – weil spezifische Angebote für Kaufsüchtige fehlen. Sie will das nun ändern. In Aarau initiiert sie die erste Selbsthilfegruppe für Betroffene in der Schweiz. Sie soll diesen Februar starten.