«Waffen und Munition sollen in grosser Menge an verschiedenen Orten versteckt liegen, und man hat den bestimmten Eindruck, dass man nur auf das günstige Moment wartet(,) um loszuschlagen.»
Es ist Plinio Zalas erster Spionagebericht für den Nachrichtendienst der Schweizer Armee. Zala - das ist ein 48-jähriger promovierter Chemiker - verheiratet und Vater von drei Kindern. Soweit – so unscheinbar auf dem Papier. Er betreibt einen Weinhandel im italienischsprachigen Bündner Südtal Valposchiavo. Seine Rebberge liegen auf der italienischen Seite der Grenze: im Veltlin.
Deshalb kann er auch inmitten des zweiten Weltkriegs immer wieder über die Grenze reisen. Dort sammelt er Informationen zur Lage vor Ort.
Kein Spion à la James Bond
Zala ist kein professioneller Geheimdienstler. Er spioniert als Zivilperson: von Dezember 1943 bis September 1945 – also fast 2 Jahre lang, bis nach Kriegsende. Auch Informationen zu Mussolini finden sich in seinen Berichten:
«Mussolini lebt in einer Villa in Gargnano (35 km, bei Brescia) und soll an einem Magenkrebs leiden. Auf jedenfall (ist) Er in die (den) Hände(n) der Deutschen und der Fasc(h)ismus lebt mit der Stütze der deutschen Bajonette(n)...»
Unter dem Decknamen «Acqua» verfasst er in dieser Zeit 119 Berichte für den Nachrichtendienst.
Spionageberichte, die ein bisher unbekanntes Kapitel der Schweizer Geschichte beleuchten. Denn die originalen Berichte wurden vom Nachrichtendienst üblicherweise sofort vernichtet, geschreddert, um jede Spur zu verwischen.
Seltene Dokumente wiederentdeckt
Diese seltenen Dokumente zeigen eindrücklich, wie Privatpersonen in der Schweiz in die Spionage involviert waren, sagt der Historiker der Universität Bern, Sacha Zala: «Das Wort Spionage evoziert heroische Zusammenhänge, man denkt an Mata Hari oder an James Bond.»
Es gab ein Netzwerk von Privatpersonen, die sozusagen im Nebenjob im grenznahen Raum spioniert haben.
Das sei aber die glamouröse Welt der Spionage. Solche Spionagelinien seien in der Schweiz zwar bekannt, zum Beispiel im Umfeld von General Guisan. Was bis jetzt aber nicht bekannt war: «Es gab ein kapillarisches Netzwerk von Privatpersonen, die sozusagen im Nebenjob im grenznahen Raum spioniert haben», sagt Zala. Sacha Zala nennt das «Milizspionage».
Mein Nonno war ein Spion.
Durch einen Zufallsfund erfährt der Enkel und Historiker Zala von der geheimen Tätigkeit seines Grossvaters. Er realisiert: Sein Nonno war ein Spion. Die grosse Frage: Für wen hat er gearbeitet?
Spurensuche in der eigenen Familienbiografie
«Ich selbst hatte lange Zeit keine Gewissheit, für wen mein Grossvater eigentlich spioniert hat», sagt Zala Junior. Der Empfänger sei naturgemäss anonymisiert.
«Der Codename war «Acqua», er schrieb seine Berichte an «Lärche». Wer aber all diese Personen waren, war nicht unmittelbar evident. Das musste man rekonstruieren.»
Diese einzigartigen Spionagedokumente gibt es heute bloss, weil Spion Plinio Zala all seine Berichte im Durchschlag auf der Schreibmaschine kopiert, in einem Dossier aufbewahrt und im Haus versteckt hatte.
Und nicht bloss die Spionageberichte, auch Skizzen, Karten der Grenze zwischen dem Puschlav und dem Veltlin, eine Codierungstabelle und ausformulierte Spionage-Aufträge waren in diesem Dossier enthalten.
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Bild 1 von 2. Rot und doppelt unterstrichen: So kam ein geheimer Auftrag an Plinio Zala daher. Bildquelle: Costa Romana, aus Schweizer Bundesarchiv: Dossier «Aqua» .
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Bild 2 von 2. Codierungstabelle von Zala alias «Acqua»: Diese Tabelle war ebenfalls im Dossier «Acqua» abgelegt. Bildquelle: Costa Romana, aus Schweizer Bundesarchiv: Dossier «Aqua» .
Die Aufträge an «Acqua» sind meist von «Lärche» unterzeichnet. Auf einem solchen Auftragszettel findet Historiker Zala die Bezeichnung «Nachrichtendienst Engadin».
Für Zala war das ein erstes Indiz, dass die Aufträge aus der Schweiz gekommen sind. Endgültig fündig wird er im Schweizerischen Bundesarchiv in Bern. Dort findet er den Schlussbericht eines sogenannten «Büro Bernina» und kann das Rätsel lösen.
Acqua hat im Auftrag der Schweizer Armee spioniert.
Der Schlussbericht ist der definitive Beweis: Grossvater Plinio Zala alias Acqua hat also tatsächlich im Auftrag der Schweizer Armee spioniert. Enkel Zala fällt ein Stein vom Herzen. «Diese Quelle ist für mich umso wichtiger. Sie ist eigentlich der einzige Beweis über den Dienstweg dieser Spionagelinie.»
«Büro Bernina» an «Büro Rigi»
Dieses Büro Bernina war in Samedan in einem Zimmer des Hotels Post untergebracht. Es war ein externes Büro des Nachrichtendienstes der Bündner Gebirgsbrigade 12, das wiederum der Zentrale, dem «Büro Rigi» des Nachrichtendienstes, in Luzern unterstellt war.
Ein gewisser Wachtmeister Gartmann, alias «Lärche», erteilte die Aufträge – zusammen mit seinem Gehilfen, dem Gefreiten Pazeller.
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Bild 1 von 2. Über Miliz-Spion Plinio Zala (erste Reihe, fünfter von Links) stand im Schlussbericht des Büro Bernina: «Dieser Vertrauensmann kann als unregelmässig bezeichnet werden. Es gibt gewisse Zeiten, wo er sehr gut arbeitet, andere dann wieder, wo man nicht viel von ihm hört. Vertrauensleute muss man ständig besuchen und immer wieder aufrütteln.» . Bildquelle: Archivio fotografico Valposchiavo • iSTORIA .
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Bild 2 von 2. Brief von «Acqua» an «Pazeller»: Plinio Zala hat den Marschbefehl erhalten und will wissen, ob er nun spionieren soll oder doch in den regulären Aktivdienst. Bildquelle: Costa Romana, aus Schweizer Bundesarchiv: Dossier «Aqua» .
«Acqua» und andere Gewährsleute in den grenznahen Bündner Talschaften – im Misox, Münstertal, Samnaun, Bergell, Livigno oder Splügen – erhielten also während des Zweiten Weltkriegs vom Büro Bernina ganz spezifische Aufträge, um in den benachbarten Ländern zu spionieren.
Der ideale Tarnberuf: Weinhändler
Im Puschlav arbeiteten noch andere Vertrauensmänner dem Büro Engadin zu. Im Schlussbericht des Büro Bernina ist von einem Ermano Misani zu lesen und einem Eugenio Triacca – sie beide waren schon vor Zala mit der Spionagetätigkeit betraut worden.
Interessant: Auch sie beide waren – wie Zala – Weinhändler. Denn, das war ein schlauer Schachzug des Nachrichtendienstes: Auch sie besassen Rebberge im italienischen Veltlin und konnten so immer wieder die Grenze überqueren und dort Informationen sammeln.
Aus den Berichten wird nicht klar, wer die Informanten waren. Sie sind natürlich nie namentlich genannt. Aus der Familie wissen wir, es waren seine Weinbauern im Veltlin.
Denn auf dem Weingut arbeiteten italienische Bauern – Historiker Zala geht davon aus, dass vor allem sie die Informanten des Grossvaters waren: «Aus den Berichten wird es nicht klar, wer die Informanten waren. Sie sind natürlich nie namentlich genannt, er will sie schützen. Aus der Familie wissen wir, es waren seine Weinbauern im Veltlin. Aber eben: die Rekonstruktion dieses Netzwerkes ist komplex und wir können es nur indirekt leisten.»
Informationen über Zoccoli und desertierwillige Partisanen
Die Natur der Berichte und die Länge sind unterschiedlich und doch folgen sie einer gewissen Systematik. Charakteristisch ist etwa, dass Zala Informationen über die Truppenstärke der Deutschen, Italiener oder Partisanen im Veltlin gibt und wo diese sich aufhalten.
So ist beispielsweise im Rapport 11 vom 26. Januar 1944 von desertierwilligen Partisanengruppen oder mangelhafter Bekleidung der Alpini zu lesen:
«Es bestätigt sich, dass in der Kaserne Torelli-Mottana ca. 700 Alpini einquartiert sind. Wie aber bereits gemeldet in meinen Rapporten Nummer 4 bis Nummer 9 ist die Bekleidung mangelhaft, und nicht selten trifft man solche Rekruten mit Halbzivilbekleidung wie Hosen, Jacken, Hüte, Halbschuhe und sogar Zoccoli und dies bereits nach einigen Wochen Dienst.»
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Bild 1 von 2. Spionagebericht No.11 über das Veltlin von «Acqua»: 16.Januar 1944. Bildquelle: Costa Romana, Aus Schweizer Bundesarchiv: Dossier «Acqua» .
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Bild 2 von 2. Acqua hielt in solch Hand-skizzierten Karten fest, welche Strassen oder Bunker auf der anderen Seite der Grenze gebaut werden. Bildquelle: Costa Romana, Aus Schweizer Bundesarchiv: Dossier «Aqua» .
Befestigungsanlagen werden ebenfalls erwähnt und systematisch in eine von Hand skizzierte Karte der Grenzregion zwischen dem Puschlav und Veltlin eingetragen: Bunker, Kavernen, Sprengobjekte, Laufgräben, aber auch Strassen, die gebaut werden sollen oder ein neuer, geplanter Flugplatz.
Schliesslich ordnete der Geheimspion die Informationen ein, analysierte und beschrieb in seinem Bericht die Stimmung der Bevölkerung im Veltlin:
«Die heutigen speziellen politischen Capi faschisti sind durchwegs minderwertige, verachtete und gehasste Elemente und man wird mit diesen bestimmt im günstigen Moment abrechnen. Das Volk ist durchwegs antifaschistisch.»
Weniger Diensttage fürs Spionieren
Die Kopien der Spionageberichte von Plinio Zala geben einen interessanten Einblick in das Phänomen der Milizspionage. Dies ist ein bisher unbekanntes Kapitel der Schweizer Geschichte.
Dank seines Informationsnetzes in Italien konnte er den Nachrichtendienst der Bündner Gebirgsbrigade 12 regelmässig mit Lageberichten und Skizzen der Truppen- und Befestigungsstandorten beliefern. Die gefährliche Spionagetätigkeit des Korporals der Sanitätstruppen wurde in Diensttagen im Dienstbüchlein abgerechnet und kostete die Schweiz also nicht viel.