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Städtebau und Raumplanung Auf der grössten Schweizer Industriebrache entsteht die Zukunft

Die ehemalige Cellulose-Fabrik Attisholz SO wird zu einem Stadtteil umgebaut, der Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Kultur vereint. Kurze Wege, gemischte Nutzung, klug geplante Verdichtung – ein Modell dafür, wie dereinst auch zehn Millionen Menschen in der Schweiz Platz haben könnten?

An der Aare bei Solothurn liegt die grösste Industriebrache der Schweiz: Die ehemalige Cellulose-Fabrik Attisholz, die 2008 stillgelegt wurde. Es ist ein spektakulärer Anblick: Grosse Fabrikhallen und kleinere Industriegebäude, Kranbahnen, ein hoher Abluft-Kamin und ein Betonturm markieren das 23 Hektaren grosse Gelände.

Industriegebäude mit Schornstein, Spiegelung im Wasser.
Legende: So sieht das Areal der ehemaligen Cellulose-Fabrik Attisholz heute aus. Klaus Bonanomi

Seit der Stilllegung der Fabrik 2008 wird das Areal zwischengenutzt – es gibt eine Eventhalle und Pop-up-Gastrobetriebe, Skateboarder nutzen die Freiräume und Rampen, Spraykünstlerinnen die grossen Wände, am Wochenende wird das Areal zur Ausgehmeile.

Grosses Wandgemälde mit muskulösem Mann und Wasserturm im Hintergrund.
Legende: Die grossen Wände sind zum Teil mit Graffiti und Wandmalereien geschmückt. Klaus Bonanomi

Hier entstehen 1300 Wohnungen und 60'000 Quadratmeter Fläche für Büros, Gewerbe, Kultur und Gastronomie. Eine Milliarde Franken investiert das Immobilienunternehmen Halter AG in den kommenden 20 Jahren.

«Wir wollen einen grossen Teil der Bauten und Wahrzeichen wie den Abluftkamin und den ‹Säureturm› erhalten», betont Andreas Campi, der bei Halter für die Arealentwicklung zuständig ist. «Diese sind wichtig für die Identität des Orts. Es gibt hier wichtige Zeugen einer historischen Industriearchitektur von ausserordentlicher Bauqualität.»

Zwei Männer stehen in einer Strasse mit bunten Gebäuden und Graffiti.
Legende: Für Raumplaner Sacha Peter (links) und Arealentwickler Andreas Campi ist Attisholz ein Beispiel für eine gute Zusammenarbeit zwischen Investoren und Raumplanungsbehörden. Klaus Bonanomi

Einige Gebäude werden umgebaut zu hohen Maisonnette- und Loftwohnungen, andere werden abgerissen und durch neue Wohnblocks ersetzt. Genauso wichtig wie die Gebäude seien bei der Planung auch die Freiräume: «Sie strukturieren das Gelände, bieten Sicht auf die Aare und die Alpen und ermöglichen Spiel, Erholung und Begegnung», sagt Campi.

Eine gemischte Nutzung von Wohnen, Arbeiten und Freizeit ermöglicht kurze Wege, dank einer neuen Busverbindung ist der Bahnhof in Solothurn künftig in zehn Minuten erreichbar. Möglich sei dies alles nur dank einer engen Zusammenarbeit zwischen dem Immobilienentwickler und der öffentlichen Hand, betont Sacha Peter, Chef des Amts für Raumplanung des Kantons Solothurn. «Es genügt nicht, wenn wir als Behörde einfach einen Stempel unter einen Plan setzen. Wir wollen und müssen künftig viel früher in die Planung einbezogen werden, von Anfang an und auf Augenhöhe mit den Investoren.»

Architektonischer Gebäudekomplex am Flussufer mit Turm und Schornstein.
Legende: Ein Generationenprojekt, eine klug geplante Verdichtung und ein Miteinander von Alt- und Neubauten – so soll Attisholz dereinst aussehen. Visualisierung: Burckhardt-Architekten, Halter AG

Damit dereinst zehn Millionen Menschen in der Schweiz leben können, brauche es Verdichtung. «Interessanterweise wird die Verdichtung oftmals kritisiert – doch die Leute zieht es in die Städte, wo es dicht ist», konstatiert Balz Halter, der Verwaltungsratspräsident des gleichnamigen Immobilienunternehmens. Es brauche deshalb eine gute Verdichtung am richtigen Ort.

Balz Halter hat die Gruppe «Urbanistica» mitbegründet, in der sich Fachleute aus Bauwirtschaft, Architektur und Städtebau Gedanken machen über ein neues, zeitgemässes Verständnis von Raum- und Stadtplanung.

Im Unterschied zu den Autoren von «achtung: die schweiz», die 1954 gleich eine ganze, am Reissbrett entworfene neue Stadt auf der grünen Wiese planten, fordert «Urbanistica» Entwicklungen innerhalb des bestehenden Siedlungsgebiets und eine Aufwertung von kleineren regionalen Zentren zu vollwertigen urbanen Knotenpunkten mit einem attraktiven Angebot für Wohnen, Arbeiten und Freizeit.

Mann steht in modernem Bürogebäude vor Fenster.
Legende: Balz Halter, Chef des Immobilienunternehmens Halter AG und einer der Vordenker der «Urbanistica»-Gruppe. Klaus Bonanomi

Mit dieser Vision wollen Halter und seine Gruppe «Urbanistica» eine öffentliche Diskussion über Raum- und Städteplanung auslösen – ähnlich wie dies etwa schon Max Frisch vor 70 Jahren tat.

«achtung: die schweiz» – eine Streitschrift

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Beim Thema Raum- und Städteplanung lohnt sich ein Blick in die Broschüre «achtung: die schweiz», die 1954 von Lucius Burckhardt, Markus Kutter und Max Frisch publiziert wurde, der damals auf dem Weg vom Architekten zum Schriftsteller war.

Die Autoren kritisieren die planlose Zersiedelung des Schweizer Mittellandes, warnen vor einem Verlust an Heimatgefühl angesichts einer rasanten Modernisierung und schreiben über Dichtestress, noch bevor es das Wort überhaupt gab, in einer Schweiz mit damals 5 Millionen Einwohnern. So kritisiert Max Frisch in seinem Vorwort die «Misere unseres derzeitigen Städtebaus» und führt aus, er finde «keine schöpferische Idee darin, keinen Willen, die Schweiz einzurichten in einem veränderten Zeitalter, keinen Ausdruck einer geistigen Zielsetzung.»

Weiter heisst es da: «Planung bedeutet immer Entscheidung. Und Entscheidung bedeutet Verantwortung.» Aber niemand wolle die Verantwortung auch für allfällige Fehler übernehmen – «also überlassen wir es doch lieber dem Schicksal.» Man bezeichne als «organische Entwicklung», was bloss die Folge einer unterlassenen Planung sei.

Echo der Zeit, 31.01.2025, 18:00 Uhr

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