Es passierte am Tag der Dreimonatskontrolle. An jenem Tag, an dem Jamie Russo der ganzen Welt erzählen wollte, dass sie schwanger ist. Die damals 26-Jährige sitzt auf dem Untersuchungsstuhl beim Frauenarzt und blickt wie betäubt auf den Bildschirm des Ultraschallgeräts. Da ist dieses kleine Wesen zu sehen, das regungslos in ihrer Gebärmutter hin- und herschwebt.
«Oh, das tut mir leid.» Die Worte des Frauenarztes hört Jamie Russo nur noch von ganz weit weg. Ihr wird schwarz vor Augen. Die heute 39-Jährige fiel aus allen Wolken. «In den Schwangerschaftsbüchern habe ich die Kapitel über Fehlgeburt übersprungen. Fehlgeburt – dieses Thema existierte für mich nicht.»
Jede 6. Schwangerschaft endet in einer Fehlgeburt
Mit ihrem Schicksal ist Jamie Russo nicht alleine. Schätzungen gehen davon aus, dass es zwischen der 5. und 12. Schwangerschaftswoche bei jeder sechsten Frau zu einer Fehlgeburt kommt. Wie hoch dieser Prozentsatz wirklich ist, ist unklar. Gerade bei frühen Fehlgeburten wissen die betroffenen Frauen häufig gar nicht, dass sie schwanger sind, und halten die Blutung für eine verspätete Regelblutung.
Stirbt ein Kind noch während der Schwangerschaft, spricht man von Sternenkindern. Die betroffenen Mütter und Väter müssen nach dem Verlust des ungeborenen Kindes nicht nur mit ihrer Trauer umgehen, sondern sich auch entscheiden, ob – und falls ja, wie – das Kind bestattet werden soll.
Ein Kind, das nicht meldepflichtig ist, existiert rechtlich gesehen nicht.
Gerade bei Fehlgeburten vor der 23. Schwangerschaftswoche kann das schwierig werden. Denn früh verlorene Kinder dürfen im Schweizer Rechtssystem nicht ins Personenregister eingetragen werden. Das heisst, sie sind nicht meldepflichtig. «Ein Kind, das nicht meldepflichtig ist, existiert rein rechtlich gesehen nicht», erklärt Anne Siegenthaler, Verantwortliche des Beratungsdienstes der Fachstelle kindsverlust.ch.
Nur wer im Personenregister eingetragen ist, hat in der Schweiz auch das Recht auf eine Bestattung. Ob Eltern ihr Kind nach einer Fehlgeburt bestatten dürfen, hängt darum in den meisten Kantonen von den Bestimmungen der Gemeinde ab.
Solothurn führt kantonale Regelung ein
Die Kantone Zürich, Waadt und Jura haben schon seit Längerem eine kantonale Regelung eingeführt. Damit wissen betroffene Eltern, dass sie ihr Kind in jeder Gemeinde bestatten dürfen. Nach einem Vorstoss der EVP ist das künftig auch in Solothurn kantonal geregelt.
Vor dem einstimmigen Entscheid fielen emotionale Voten im Saal: «Aus einem Moment des Glücks wird man mit einem Schlag in die tiefste Verzweiflung geschickt», sagte FDP-Kantonsrat Markus Spielmann und fragte: «Was ist das für eine archaische Rechtsordnung, die deinem totgeborenen Kind die Menschenwürde abspricht und damit das Recht auf eine schickliche Bestattung?»
Die Bestattung von Sternenkindern ist auch ohne die kantonale Regelung in den meisten Gemeinden möglich – das zeigt eine Umfrage vom SRF Regionaljournal Aargau Solothurn. Dennoch sei es ein wichtiger Schritt für die Anerkennung der Betroffenen – da sind sich die Politiker und Politikerinnen im Solothurner Kantonsrat einig. Sie stimmten geschlossen für eine kantonale Regelung.
Anne Siegenthaler von der Fachstelle kindsverlust.ch kennt aber auch andere Fälle. «Mütter wurden abgewiesen, weil es die Möglichkeit der Bestattung auf dem Friedhof ihrer Wohngemeinde nicht gibt. Sie mussten ihr Kind in einer anderen Gemeinde bestatten.» Das sei enorm schwierig in einer Zeit, wo Betroffene die Energie für die Bewältigung ihrer Trauer bräuchten.
Umgang in den Spitälern sehr unterschiedlich
Auch bei Jamie Russo läuft es nach der Fehlgeburt anders, als sie es sich gewünscht hätte. Statt ihr verstorbenes Kind natürlich zu gebären, muss sie eine Curettage (Ausschabung) durchführen lassen. Ein Eingriff, bei dem das Kind operativ aus der Gebärmutter entfernt wird.
Über die Möglichkeit einer Bestattung wird Jamie Russo nicht informiert. «Ich musste sogar aktiv darum bitten, dass ich die Überreste meines Kindes erhalte», erzählt die 39-Jährige. Als sie aus der Narkose aufwacht, steht auf dem Nachttisch neben ihr ein Plastikbehälter mit einem weissen Deckel. Darin ist das Kind, das sie verloren hat. «Ich hätte mir eine schönere und würdevollere Übergabe gewünscht.»
Dass die Eltern nicht aufgeklärt werden, dass sie das verstorbene Kind mit nach Hause nehmen können, kann heute noch vorkommen, kritisiert Anne Siegenthaler von der Fachstelle kindsverlust.ch. «Wenn die Mütter ihre früh verstorbenen Kinder nicht mit nach Hause nehmen, werden diese zum Teil mit dem medizinischen Abfall entsorgt.»
Umdenken in Spitälern findet statt
Es gebe inzwischen aber auch Spitäler, die behutsamer mit diesem Thema umgingen, betont Anne Siegenthaler. «Dort wird besprochen, wie das Kind übergeben wird. Vielleicht in einer selbst gestalteten Schachtel oder einem Körbchen.»
Gewisse Spitäler organisieren auch Bestattungen für Fehlgeburten und bieten auf dem Spitalgelände eine Gedenkstätte an, wo die Eltern ihre Kinder bestatten können.
Auch im Kantonsspital Olten herrscht ein behutsamer Umgang mit Fehlgeburten und mit den Eltern des verstorbenen Kindes. Die leitende Hebamme, Christine Kaufmann, setzt sich für die Interessen der Betroffenen ein. «Ab der sechsten oder siebten Schwangerschaftswoche kann man die Herztöne eines Babys hören», betont sie. «Darum ist es für mich von Anfang an ein Mensch.»
Für die Begleitung arbeitet die Abteilung von Christine Kaufmann mit dem Verein Stärnechind zusammen. Der Verein stellt für fehl- und stillgeborene Kinder Kleider oder Abschiedskörbchen her, wo das verstorbene Kind hineingebettet wird.
Zusammen mit einer Projektgruppe hat sich Christine Kaufmann dafür eingesetzt, dass auf dem Friedhof in Olten ein Grabfeld für Sternenkinder eingerichtet wird. Nach zweijähriger Planung soll es im August dieses Jahres eröffnet werden. «Ab dann können Eltern ihre Sternenkinder in Olten auch in einem Einzelgrab beerdigen.» Heute ist nur eine Beerdigung im Gemeinschaftsgrab möglich.
«Jeder Mensch hat ein Recht auf eine Beerdigung und einen Ort, an dem man um ihn trauern kann», betont Christine Kaufmann.
Das verlorene Kind ist im Herzen dabei
Jamie Russo hat ihr Kind im Garten beerdigt. An der Stelle wächst jetzt ein Feigenbaum. Den Verlust ihres ersten Kindes konnte sie inzwischen gut verarbeiten. Am Anfang sei es für sie ein harter Schlag gewesen. Aber: «Ich hatte enorm viel Unterstützung aus meinem Umfeld», betont Jamie Russo. Drei Monate nach der Fehlgeburt im Jahr 2011 wurde Russo wieder schwanger, und dieses Mal ging alles gut. Inzwischen ist die 39-jährige Mutter von vier gesunden Kindern. Und das fünfte Kind, das das Erste hätte sein sollen, sei im Herzen immer mit dabei.