Das Ziel eines Rahmenabkommens zwischen der Schweiz und der EU für die künftige Gestaltung des bilateralen Wegs ist in weite Ferne gerückt. Trotz aller Negativmeldungen sei es gar nicht so schlecht, wo die Schweiz aktuell stehe, sagt der ehemalige Diplomat Paul Widmer.
SRF News: Wie beurteilen Sie den aktuellen Stand beim Rahmenabkommen?
Paul Widmer: Der Bundesrat hat einen riesigen Fehler gemacht hat, als er sich schon im letzten Jahr unter Druck setzen liess und erklärte, er müsse rasch ein Rahmenabkommen abschliessen. Nach meiner Ansicht gibt es nichts, dass uns zu einem raschen Abschluss zwingt. Man sollte sich nicht unnötig unter Zeitdruck setzen, wenn man Zeit gebrauchen kann. Und in diesem Fall benötigen wir sie dringend.
Aber die EU will so ein Rahmenabkommen möglichst schnell und zwei Drittel der Schweizer Exporte gehen in die EU.
So ist es. Aber die Schweiz verteidigt als Nation ihre eigenen Interessen und nicht jene der Europäischen Union. Natürlich muss man versuchen, sich möglichst näherzukommen. Aber man muss auch wissen, wo die eigenen Grenzen sind. Diese liegen für die Schweiz bei einem drohenden sehr grossen Souveränitätsverlust. Denn die Schweiz müsste automatisch in gewissen Bereichen EU-Recht übernehmen. Wir hätten nichts mehr dazu zu sagen. Das ist das wirkliche Kernproblem und nicht die flankierenden Massnahmen.
Brüssel sieht die Flankierenden als diskriminierend für europäische Unternehmen und somit als Problem an?
Die flankierenden Massnahmen sind ein schwerwiegendes Problem für einen eher kleinen Gesellschaftsbereich, nämlich den Bausektor.
Wir können nicht als Schweiz weiterexistieren, wenn wir uns die demokratischen Rechte zu sehr einschränken lassen.
Der Souveränitätsverlust hingegen betrifft unsere ganze Nation. Wir können nicht als Schweiz weiterexistieren, wenn wir uns die demokratischen Rechte zu sehr einschränken lassen.
Die Schweizer Gewerkschaften sorgen sich um die Arbeitnehmer. Wie bringt man sie zum Umdenken?
Ich verstehe die Gewerkschaften und alle jene, die in diesem Bereich arbeiten. Aber der Bundesrat muss die Interessen des ganzen Landes im Auge haben.
Es gibt neben den flankierenden Massnahmen auch zwei andere Bereiche: die Übernahme des automatischen Rechts und die Tatsache, dass die Schweiz das Recht des europäischen Gerichtshofs übernehmen müsste.
Die EU machte kürzlich wieder deutlich, sie wolle künftig keine weitere Rosinenpickerei der Schweiz mehr?
Das könnte sehr wohl der Fall sein. Aber an diesem Punkt müssten wir eine rote Linie ziehen und andere Möglichkeiten überlegen, etwa eine Sonderregelung im Sinn eines «Opting Out».
In 99 Prozent der Fälle können wir das EU-Recht problemlos übernehmen. Aber wenn es einen grossen Streitfall gibt und die Schweizer Bevölkerung darüber abstimmen will, können wir nicht darauf verzichten. Hier müsste ein wirkliches Schiedsgericht her und nicht nur ein «Schein-Schiedsgericht».
Was meinen Sie mit einem «Schein-Schiedsgericht»?
Die jetzige Lösung mit dem Europäischen Gerichtshof ist nicht ein wirkliches Schiedsgericht. Denn der Gerichtshof macht keine Gutachten im eigentlichen Sinn, sondern gerichtliche Vorab-Entscheide. Diese müssen ohne weitere Diskussion eingehalten werden. Ein Schiedsgericht aber muss eigenständig und unabhängig urteilen können.
Ist für Brüssel eine Sonderregelung gerade in Zeiten des Brexit nicht völlig illusorisch?
Zurzeit wird die EU ganz sicher nicht darauf eingehen. Aber man sieht auch, dass die Entwicklung in Europa nicht in die Richtung einer immer tieferen Union geht, sondern in eine Richtung mit mehr Variantenreichtum.
Glauben Sie, dass die EU irgendwann einknicken und eine Sonderregelung der Schweiz akzeptieren wird?
Wenn man verhandelt, muss man alles versuchen und darf nichts vorschnell ausschliessen, weil es schwierig erscheint. Es ist jetzt an der Zeit, dass der Bundesrat nochmals über die Bücher geht und mit allen Parteien schaut, was sich machen lässt. Vergessen wir auch nicht: Absolut dringlich ist derzeit nichts. Aber wir sind in einer Sackgasse. Wir haben uns etwas verrannt.
Das Gespräch führte Samuel Wyss.