In der Nacht zum 30. Oktober 2020 kommt es in Wallbach zu einem Feuergefecht mit Sturmgewehren. Sechs schwerbewaffnete Kriminelle aus Frankreich versuchen in ein Waffengeschäft einzudringen. Im Geschäft von Jean-Paul Schild lagern in dieser Nacht hunderte Polizeiwaffen – die komplette Ausrüstung für ein Schweizer Polizeikorps.
Doch der Besitzer des Waffengeschäfts in Wallbach ist gewarnt: Er weiss, dass in den Wochen zuvor bereits andere Geschäfte geplündert wurden. Als er erwacht und sieht, dass schwer Bewaffnete mit Gewalt in sein Haus wollen, rennt er zum Waffenschrank, holt sich ein Sturmgewehr und ein Magazin.
Warnschuss abgegeben
«Ich habe das Fenster geöffnet und geschrien.» Die Gangster hätten ungerührt weitergemacht. Dann habe er gesehen, dass jemand schon fast zu ihm hochgeklettert war. Er habe eine Ladebewegung gemacht, aber auch das habe die Täter nicht abgeschreckt. «Also habe ich einen Warnschuss in die Wand abgegeben», erzählt der Büchsenmacher der «Rundschau».
Die Kugel verletzt den hochgekletterten Gangster am Arm. Seine Kollegen schiessen aus allen Rohren zurück. Sieben Kugeln dringen ins Schlafzimmer ein, 17 treffen die Fassade. Schild schiesst ebenfalls: vier, fünf Schüsse in den Motorblock eines der Autos. Dann ergreifen die Angreifer die Flucht: Vollgas Richtung Frankreich. 2021 wird die Bande in Frankreich verhaftet.
Verjagen oder treffen?
Doch für Jean-Paul Schild ist der Albtraum damit nicht vorbei. Die Staatsanwaltschaft Aargau eröffnet auch gegen ihn ein Strafverfahren. Der Staatsanwalt wirft dem Büchsenmacher vor, dass er sich schon vor dem Überfall bewaffnet habe. Das sei versuchte mehrfache vorsätzliche Tötung. Strafantrag: drei Jahre Gefängnis, davon sechs Monate unbedingt.
«Das ist sehr belastend. Jeden Abend vor dem ins Bett gehen denkt man daran», erzählt Schild. Der 60-Jährige sagt, er habe die Angreifer nur verjagen, aber nicht treffen wollen.
Die Staatsanwaltschaft erklärt, sie dürfe sich vor dem Prozess nicht äussern. Die Ermittlungsakten sind nicht öffentlich, aber alle wesentlichen Elemente müssen in der Anklageschrift stehen. Die «Rundschau» hat fünf Strafrechtsexperten um eine Einschätzung zur Anklage gebeten. Ein Professor wertet das Vorgehen der Staatsanwaltschaft als korrekt: Ob es sich um einen Tötungsversuch oder Notwehr handle, müsse ein Gericht entscheiden.
Doch die meisten Experten sehen es wie der frühere leitende Oberstaatsanwalt von Zürich Andreas Brunner. Er sagt: «Für mich ist das nicht nachvollziehbar. Das ist – so wie es in der Anklage geschildert ist – ein Lehrbeispiel von gerechtfertigter Notwehr.» Er hätte das Verfahren eingestellt.
Der Termin für den Prozess gegen Jean-Paul Schild steht noch nicht fest.