Die Berner Altstadt ist Unesco-Weltkulturerbe und beliebtes Fotosujet von Touristen aus der ganzen Welt. Doch Erinnerungsfotos ohne Autos sind selten.
Obwohl das Parkieren offiziell nur Anwohnenden und dem Gewerbe erlaubt ist, sei die Rathausgasse heute eine Durchfahrtsstrasse und ein «national bekanntes Gratisparking», ärgert sich Weinhändler Serge Berger: «Für meine Kundschaft ist es unmöglich, Weinkisten vor dem Geschäft in Autos zu laden.»
Mehr Sicherheit, Lebensqualität und Kundschaft?
Weinhändler Berger und 30 weitere Gewerbetreibende aus der unteren Berner Altstadt fordern nun, das Unesco-Weltkulturerbe solle vom motorisierten Individualverkehr befreit werden. Weniger Autos führten zu weniger Unfällen, mehr Aufenthaltsqualität und mehr Laufkundschaft, ist Stadträtin Ursina Anderegg (Grüne) überzeugt.
Doch die jüngste Forderung spaltet das Gewerbe. «Das Manifest kommt zum falschen Zeitpunkt», sagt Peter Steck, Präsident des städtischen Gewerbeverbandes. Denn 2022 haben sich das Gewerbe und die rot-grüne Stadtregierung auf einen breiten Kompromiss geeinigt.
Die Autos der Anwohner sollen ins Parkhaus, der Güterumschlag für das Gewerbe vereinfacht werden. Noch vor der Umsetzung dieses Kompromisses ein De-facto-Verbot zu fordern, sei unnötig und schlechter Stil.
SVP-Spott bei Porschefahrt über den Berner Bahnhofplatz
Noch vor wenigen Jahren träumte selbst die rot-grüne Berner Stadtregierung davon, ganze Verkehrsachsen wie den Berner Bahnhofplatz für den motorisierten Individualverkehr zu sperren.
«Ich dürfte hier seit 16 Jahren nicht mehr fahren», spottet SVP-Stadtrat Janosch Weyermann in seinem Porsche-Cabrio, als er über den Berner Bahnhofplatz fährt. Rot-Grün habe die Komplexität von autofrei gewaltig unterschätzt, «ohne Auto geht es in der Stadt nicht».
Regierung justiert Politik entscheidend
Der Seitenhieb sitzt jedoch nur halb. Denn seit der Wahl von SP-Verkehrsdirektorin Marieke Kruit 2021 heisst der Goldstandard der Stadtberner Verkehrspolitik nicht mehr autofrei, sondern autoarm.
Grundsätzlich sollen die Leute zum Umsteigen auf den öffentlichen Verkehr gebracht werden. Autoarm bedeute aber, der nötige Wirtschaftsverkehr solle in der Stadt fahren können. Denn wenn sie einen verstopften Abfluss zu Hause habe, erklärt Verkehrsdirektorin Kruit, wolle auch sie nicht ewig auf den Sanitär warten.
Mit dem Ziel autoarm, statt autofrei hat die Berner Stadtregierung ihre Verkehrspolitik den Realitäten angepasst. Im Parlament hingegen wird schon bald weitergestritten, denn links und rechts halten an ihren Maximalforderungen fest.