Es hört sich nach einem Albtraum für Senioren an: Stundenlang an einen Stuhl gefesselt sein. Angebunden auf der Toilette das Frühstück einnehmen müssen.
Diese Vorwürfe in der Kleinwohngruppe Oberurnen im Kanton Glarus haben Mitarbeitende in der Zeitung «Südostschweiz» publik gemacht. Sie klagten über unzumutbare Zustände im Wohnheim und über leidende Senioren. Eine Untersuchung des Kantons Glarus bestätigt nun Missstände im Heim.
Am Stuhl angebunden
Die zuständige Regierungsrätin Marianne Lienhard sagt in der Sendung «10vor10», man habe aufgrund der Beschwerde eine Untersuchung gestartet und nun Massnahmen beschlossen. Als besonders gravierend beurteilte die Glarner Regierung das unzulässig lange Festbinden der Betagten an Stühlen und in der Toilette. Auch hätten die Betagten das Frühstück auf der Toilette angebunden essen müssen.
Der Trägerverein der Wohngruppe betont gegenüber «10vor10», die Betagten seien weder gefesselt noch gequält worden. Das Anbinden sei zum Schutz der Betagten geschehen. Man habe bereits Korrekturen vorgenommen.
Gewalt zu Hause ist viel häufiger
Immer wieder sorgen Misshandlungen in Heimen für Schlagzeilen. Doch an die Öffentlichkeit dringen nur wenige Fälle. Seit Jahren kümmert sich die Unabhängige Beratungsstelle fürs Alter um die Sorgen der Betagten. Immer mehr Menschen wenden sich an die Beratungsstelle, die in der ganzen Schweiz tätig ist. Ihre Statistiken zeigen: Die meisten Vorfälle finden nicht in Heimen, sondern zu Hause statt.
«In den Heimen ist immer noch jemand da, der etwas sieht. Aber zu Hause geschehen viele Misshandlungen unbemerkt», sagt Albert Wettstein. Der ehemalige Stadtarzt von Zürich ist seit mehreren Jahren für die UBA unterwegs. Gewalt an Betagten nehme viele Formen an, weiss der Experte:
- Psychische Gewalt: Beschimpfungen, Drohungen
- Physische Gewalt: Rütteln, Schlagen, Anbinden.
- Finanzielle Gewalt: Geld unterschlagen, einen Vertrag zum Nachteil des Betagten unterschreiben lassen.
- Vernachlässigung: Medizinische Hilfe untersagen, nicht beim Duschen helfen, Kleider oder Einlagen nicht wechseln.
Angehörige sind oft überfordert
Viele dieser Handlungen passieren nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus Überforderung. Das hat Barbara Baumeister in einer Untersuchung festgestellt. Die Dozentin an der Zürcher Hochschule ZHAW hat mit ihrem Team eine der wenigen Studien zum Thema häusliche Gewalt an Betagten verfasst.
«Vieles spielt sich im Dunkeln, Verborgenen ab», sagt Baumeister. Sie hat Hunderte von Einzelfällen untersucht und mit vielen Fachstellen und Pflegepersonal Interviews geführt. Alle seien mit dem Problem konfrontiert. Was sie erstaunt hat: «Das grösste Problem ist, dass viele gar keine Hilfe annehmen», sagt die Expertin.
Häufig ist es der Ehemann, der mit der dementen Ehefrau nicht mehr weiter weiss. Oder es ist die Tochter, die den Vater ans Bett bindet, während sie zur Arbeit muss.
Viele holen zu spät Hilfe
«Viele Betreuungspersonen schlittern in eine Situation hinein. Sie sind sich gar nicht bewusst, was das an Zeit und Kraft kostet. Und dass es immer schlimmer wird», erklärt Barbara Baumeister.
Angehörige müssten früh genug über die Probleme reden und sich unbedingt Hilfe holen. Ihre Untersuchung hat eindrücklich gezeigt: Es bringt oft nichts, von Tätern und Opfer zu reden: «Sowohl die Betagten als auch ihre Betreuungspersonen leiden unter der Situation.»