Was verlangt die Initiative «Schweizer Recht statt fremde Richter»? Die sogenannte Selbstbestimmungs-Initiative will verankern, dass die Bundesverfassung in jedem Fall über dem Völkerrecht steht und diesem vorzuziehen ist. Davon ausgenommen wären einzig die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts.
Bei einem Konflikt müssten Bund und Kantone für eine Anpassung der völkerrechtlichen Verträge an die Vorgaben der Bundesverfassung sorgen. Würden die Verhandlungen darüber scheitern, so müsste der widersprechende völkerrechtliche Vertrag «nötigenfalls» gekündigt werden. Völkerrechtliche Verpflichtungen, die der Bundesverfassung widersprechen, dürften keine mehr eingegangen werden.
Weshalb hat die SVP die Selbstbestimmungs-Initiative lanciert? Die Initiative ist eine Reaktion der SVP auf die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative. Diese war 2010 vom Volk angenommen worden. Damals haben Bundesrat und Parlament Abstriche am Verfassungstext bewusst in Kauf genommen, weil er gegen nicht zwingendes Völkerrecht verstiess, so gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) oder das Abkommen über die Personenfreizügigkeit mit der EU.
Wieso lehnt der Bundesrat die Initiative ab? Die Selbstbestimmungs-Initiative trete mit dem Anspruch an, für Klarheit im Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht zu sorgen. Diesen Anspruch könne sie jedoch in der Praxis nicht einlösen, argumentiert der Bundesrat. Stattdessen schwäche die Initiative die Position der Schweiz im Verkehr mit anderen Staaten und den internationalen Menschenrechtsschutz. Ein Ja zur Initiative würde die internationalen Verpflichtungen der Schweiz «fortwährend infrage stellen» und «die Verlässlichkeit und Stabilität der Schweiz gefährden», schreibt der Bundesrat.
Geht Völkerrecht immer Landesrecht vor? Unbestritten ist, dass «zwingende Bestimmungen des Völkerrechts» jederzeit Vorrang vor der Bundesverfassung haben. Eine Volksinitiative, die gegen zwingendes Völkerrecht verstösst, ist deshalb ganz oder teilweise ungültig.
Beim nicht zwingenden Völkerrecht hingegen ist umstritten, was Vorrang hat. Für den Bundesrat kann aus der Bundesverfassung «nicht abgeleitet werden, dass das Völkerrecht stets Vorrang geniesse». Dies hielt er am 5. März 2010 in einem Bericht fest. Die Bundesverfassung hält in Artikel 5 Abs. 4 denn auch lediglich fest: «Bund und Kantone beachten das Völkerrecht».
Das Bundesgericht hat sich dazu in den vergangenen Jahren nicht eindeutig geäussert. So hat es bei seiner Rechtsprechung dem Landesrecht immer dann den Vorzug gegeben, sobald sich das Parlament bei der Ausarbeitung eines Gesetzes bewusst über das Völkerrecht hinweggesetzt hatte (sog. «Schubert-Praxis»). Jedoch hat das Bundesgericht später eine Ausnahme von dieser Praxis entwickelt, sobald es um den Schutz der Menschenrechte geht (sog. «PKK-Rechtsprechung»).
Was sind «zwingende Bestimmungen» des Völkerrechts? Eine abschliessende Definition des zwingenden Völkerrechts existiert nicht. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass insbesondere das Gewaltverbot, die Verbote von Folter, Völkermord und Sklaverei, die Grundzüge des humanitären Völkerrechts Teil des zwingenden Völkerrechts seien. Dies beinhaltet insbesondere das Verbot von Angriffen auf Leib und Leben, der Gefangennahme von Geiseln, der Beeinträchtigung der persönlichen Würde sowie von Verurteilungen und Hinrichtungen ohne vorhergehendes Urteil eines ordnungsmässig bestellten Gerichtes.
Zudem gehört laut Bundesrat, dass die notstandsfesten Garantien der EMRK Teil des zwingenden Völkerrechts seien. Diese umfassen nach Artikel 15 EMRK das Verbot willkürlicher Tötung (Art. 2 Abs. 1), der Folter (Art. 3), der Sklaverei, Leibeigenschaft und Zwangsarbeit (Art. 4 Abs. 1) sowie den Grundsatz «nulla poena sine lege» (keine Strafe ohne Gesetz, Art. 7).
Führt die Initiative zwingend zu einer Kündigung der EMRK? Nein, die Initiative spricht nur davon, dass völkerrechtliche Verträge «nötigenfalls» gekündigt werden müssen, sofern sie den Vorgaben der Bundesverfassung widersprechen und nicht entsprechend angepasst werden können.
Der Bundesrat weist darauf hin, dass die Vertragsstaaten der EMRK verpflichtet seien, die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu befolgen. Der Vollzug der Urteile werde vom Ministerkomitee des Europarats überwacht. Bei einer systematischen und andauernden Nicht-Umsetzung der EMRK sei somit «theoretisch der Ausschluss aus dem Europarat möglich», schreibt der Bundesrat in der Botschaft zur Initiative: «Ein solcher Ausschluss hätte die Wirkung einer Kündigung der EMRK».
Die Initianten schreiben in ihrem Argumentarium, die Kündigung der EMRK sei «nicht das Ziel der Initiative». Sie betonen zudem: «Was in der EMRK steht, steht auch in der Bundesverfassung und wird von Schweizer Gerichten angewandt». Eine allfällige Kündigung der EMRK käme also nicht einer Abschaffung der Menschenrechte gleich.
Lässt die Selbstbestimmungs-Initiative Ausnahmen zu? Bei der Auslegung des bestehenden Rechts seien für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden «völkerrechtliche Verträge, deren Genehmigungsbeschluss dem Referendum unterstanden hat» massgebend, hält die Initiative fest.
Damit nimmt sie Verträge, über die das Volk abgestimmt hat oder hätte abstimmen können, bei der Rechtsprechung vom Wirkungsbereich der Initiative aus. Da zum Beispiel das Abkommen über die Personenfreizügigkeit der EU in einer Referendumsabstimmung vom Stimmvolk gutgeheissen worden ist, würde es das Bundesgericht auch nach einer Annahme der Selbstbestimmungs-Initiative höher gewichten müssen als das Landesrecht. Würde das Volk jedoch in Zukunft eine Volksinitiative annehmen, die im Widerspruch zur Personenfreizügigkeit steht, müsste das Abkommen entsprechend angepasst oder «nötigenfalls» gekündigt werden.
Wie geht das Ausland mit dem Konflikt zwischen Landesrecht und Völkerrecht um? Ein Rechtsvergleich im Auftrag des Bundesrates hat ergeben, dass sich «keine der untersuchten Staatsrechtsordnungen zu einem gleichsam mechanisch anzuwendenden Primat des Völkerrechts» bekennt, wie es im Bericht des Bundesrates vom 5. März 2010 heisst. In den USA zum Beispiel könne die Verfassung «in keiner Weise» durch internationales Recht ergänzt, verändert oder eingeschränkt werden.
In Schweden gehe nationales Recht grundsätzlich dem Völkerrecht vor. In Grossbritannien sei die Souveränität des Parlamentes «das beherrschende verfassungsrechtliche Prinzip». In Deutschland habe auch die EMRK «grundsätzlich keinen Vorrang gegenüber den Bundesgesetzen». Zudem werde in keinem der untersuchten Länder – anders als in der Schweiz – das zwingende Völkerrecht besonders erwähnt und damit dem Landesrecht vorgezogen.