Erst am Freitag hat der Bundesrat eine nochmals verschärfte Notverordnung erlassen, die auch das Durcheinander von Massnahmen und Umsetzungen in den Kantonen hätte stoppen sollen: Ein Versammlungsverbot statt einer Ausgangssperre. Und Baustellen sowie Industriebetriebe sollen offenbleiben, wenn sie die Distanz- und Hygieneregeln einhalten können.
Massnahmenschraube angezogen
Diese Regelungen seien abschliessend und liessen eigentlich keinen Raum für Ausgangssperren in Kantonen oder flächendeckende Baustellenschliessungen, doppelten die Experten des Bundes am Samstag an einer Medienkonferenz nach. Doch noch am selben Tag drehte der Kanton Tessin erneut an der Massnahmenschraube: Für mindestens eine Woche schliesst der Südkanton praktisch alle Baustellen und Industriebetriebe, die nicht lebensnotwendige Güter produzieren.
Im Tessin mögen diese Massnahmen durchaus angebracht sein: Der Kanton ist besonders schlimm betroffen, und bei der Entwicklung der Corona-Infektionswelle der Deutschschweiz etwa ein bis zwei Wochen voraus. Mit der Schliessung von Industriebetrieben und Baustellen schliesst der Südkanton indirekt die Grenze ein Stück mehr, denn in diesen Bereichen arbeiten besonders viele Grenzgänger aus Norditalien.
Ein gefährliches Zeichen
Aber das Tessin setzt mit den Massnahmen ein gefährliches Zeichen. Man könnte den Tessiner Entscheid auch so deuten: Jeder Kanton kann also trotz Notrecht des Bundes – der ausserordentlichen Lage – Verschärfungen beschliessen, wenn es ihm passt. Das ist natürlich nicht so. Von der Notverordnung des Bundes dürfen die Kantone praktisch nicht abweichen und bei der Umsetzung der Massnahmen sind den Kantonen ebenfalls enge Grenzen gesetzt.
So musste auch der Kanton Uri bei seinem umstrittenen Ausgangsverbot für Senioren zurückkrebsen. Noch klären die Spezialisten des Bundes ab, ob die drastischen Massnahmen des Tessins sich mit der Notverordnung des Bundesrats vereinbaren lassen. Aus der Bundesverwaltung war schon heute zu hören, dass es sehr grosse Fragezeichen gibt.
Es zeichnen sich eigentlich nur zwei zufriedenstellende Auswege aus dieser Situation ab: Entweder nimmt das Tessin die Massnahmen wieder zurück – oder der Bundesrat führt diese mit einer nochmals neuen Verordnung gleich in der ganzen Schweiz ein. Das scheint zurzeit aber wenig realistisch. Wirtschaftsminister Parmelin machte erst gestern nochmals deutlich: Die Landesregierung wolle die Wirtschaft möglichst nicht ganz abwürgen. Noch arbeiten rund 80 Prozent der Bevölkerung, wenn auch viele davon von Zuhause.
Es herrscht Uneinigkeit
Denkbar ist auch, dass der Bund das Tessin rüffelt, aber trotzdem gewähren lässt, obwohl die Massnahmen wahrscheinlich der Bundesverordnung widersprechen. Denn zwischen dem Tessin und dem Bund ist die Verstimmung schon ziemlich gross. Und auch die beiden Westschweizer Kantone Genf und Waadt finden, die Landesregierung handle zu zögerlich. Nächste Woche wollen einzelne Bundesräte darum mit diesen drei Kantonen das Gespräch suchen. In dieser ausserordentlichen Krise braucht das Land nicht auch noch eine Föderalismuskrise.