Über dem Gotthard lag der Medianlohn einer Vollzeitstelle bei 5'546 Franken. Das zeigen Zahlen der Lohnstrukturerhebung des Bundesamts für Statistik für das Jahr 2020. Die Hälfte der Arbeitnehmenden verdiente mehr, die andere Hälfte weniger. Das sind rund 17 Prozent weniger, als der mittlere Schweizer Lohndurchschnitt, der bei 6'665 Franken monatlich lag. Obwohl viele Branchen einen Gesamtarbeitsvertrag haben, liegen die Löhne unter dem schweizerischen Schnitt. Eine Rolle spielen die gut 74'000 Grenzgänger.
«Starke» und «schwache» Gesamtarbeitsverträge
Besonders im privaten Sektor ist das Lohngefälle zwischen dem Tessin und der restlichen Schweiz bedeutend. Während die Medianlöhne in Branchen mit landesweit gültigen Gesamtarbeitsverträgen wie dem Baugewerbe nur zwischen sechs und acht Prozent unter dem schweizerischen Schnitt liegen, sind die Unterschiede im verarbeitenden Gewerbe mit über 30 Prozent gross.
Das liege an den unterschiedlichen Gesamtarbeitsverträgen, sagt der Unia-Regionalsekretär Giangiorgio Gargantini. In Branchen mit starken Gesamtarbeitsverträgen würden nicht nur die tiefen, sondern auch die höheren Saläre branchenweit festgelegt, was den Unterschied zur übrigen Schweiz verkleinere. Angestellte im Detailhandel und anderen Branchen jedoch sind oft durch betriebliche GAV abgesichert. Diese halten im Tessin tiefere Löhne fest als in anderen Kantonen. So liegt der Mindestlohn bei der Migros Genossenschaft Tessin 100 Franken tiefer als im Rest der Schweiz.
Grenzgängerbranchen mit tiefen Löhnen
In Branchen mit besonders tiefen Löhnen wie beispielsweise der Herstellung von Metallerzeugnissen oder elektrischen Ausrüstungen arbeiten traditionell viele Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Italien. Anders als im Rest der Schweiz gibt es im Tessin viele industriellen Arbeitsplätze mit repetitiven Tätigkeiten. «Diese sind nördlich des Gotthards durch Automatisierung weggefallen», sagt Michele Rossi von der Tessiner Handelskammer.
Diese Arbeitsplätze stünden aber nicht in der Konkurrenz mit der hiesigen Bevölkerung, da die Arbeiten seit jeher von Grenzgängerinnen ausgeführt wurden. Insbesondere bei Arbeiten, die von eher einfach ausgebildeten Angestellten ausgeführt werden, erklärt dies einen Teil des grossen Lohnunterschieds zwischen Tessin und Schweizer Durchschnitt.
«In Branchen, wo fast ausschliesslich Grenzgängerinnen beschäftigt sind, nützen die Arbeitgeber die Situation aus und stellen Grenzgängerinnen und Grenzgänger zu den tiefst möglichen Löhnen an», sagt der Giangiorgio Gargantini von der Unia. Die Löhne werden im Tessin seit Jahren thematisiert. Um Dumpinglöhnen in Branchen ohne GAV zu verhindern, gilt seit Dezember 2021 ein Mindestlohn von 19 Franken pro Stunde. Vom Mindestlohn ausgenommen sind jedoch Firmen, die einen betrieblichen GAV haben, was findigen Unternehmern ein Schlupfloch erlaubt.
In Branchen, wo fast ausschliesslich Grenzgängerinnen beschäftigt sind, nützen die Arbeitgeber die Situation aus.
Zahl der «Frontalieri» nimmt zu
Michele Rossi von der Handelskammer sagt, dass der reine Vergleich der nominalen Löhne hinke, weil die Lebenskosten im Tessin tiefer als im Rest der Schweiz seien, was wiederum von Seiten Gewerkschaft bestritten wird. Zumindest für die Grenzgänger, die hierzulande kaum Geld ausgeben, scheint die (Lohn-)Rechnung aufzugehen. Die Zahl der «Frontalieri» nimmt seit 20 Jahren zu. Zurzeit sind drei von zehn Arbeitsplätze durch Grenzgänger besetzt.