Das Wichtigste in Kürze
- Für den türkischen Staatspräsidenten Erdogan ist der islamische Prediger Gülen verantwortlich für den Putschversuch im vergangenen Sommer.
- Gülen-Anhänger leiden seither nicht bloss in der Türkei unter Repressionen – auch Schweizer Sympathisanten spüren den verlängerten Arm Erdogans.
- So werden beispielsweise Pässe nicht ausgestellt oder Vollmachten verweigert.
Software-Ingenieur und Gülen-Anhänger Ilyas Türkben glaubte seinen Ohren nicht zu trauen: Für seine neugeborene Tochter könne kein Pass ausgestellt werden. Das wurde ihm letzten Oktober auf dem türkischen Konsulat gesagt. Schuld sei sein zweiter Vorname Stéphane, der in seinem französischen aber nicht in seinem türkischen Pass stehe.
Keine Türkin mehr
Ilyas Türkben wies die Angestellte darauf hin, dass seine erstgeborene Tochter vor zwei Jahren problemlos eine Identitätskarte bekommen hatte. Kurz darauf habe die Konsulatsangestellte bei ihm zu Hause angerufen: Wegen seines zweiten Vornamens sei nun auch der Geburtsschein seiner ersten Tochter annulliert worden.
Das zweijährige Mädchen ist damit keine Türkin mehr. Warum? «Die Türkei will uns überall Steine in den Weg legen, weil wir Gülen-Anhänger sind», sagt der Software-Ingenieur. Der türkische Staatspräsident Erdogan macht seinen ehemaligen Weggefährten, den islamischen Prediger Fethullah Gülen verantwortlich für den Putschversuch von letztem Juli.
Keine Pässe, keine Vollmachten
«10vor10» hat Kenntnis von vier weiteren Fälle von Gülen-Anhängern, die geltend machen, die türkischen Vertretungen in der Schweiz hätten ihre Pässe nicht verlängert oder ihnen aufgrund «technischer» Schwierigkeiten keine Vollmachten ausgestellt.
Damit werden in der Schweiz lebende Türken daran gehindert, ihre Wohnungen durch Stellvertreter in der Heimat zu verkaufen. Eine entsprechende Anfrage lässt die türkische Botschaft in Bern unbeantwortet.
Vorzeigekonzern von der Türkei enteignet
Der eingebürgerte Schweizer und Gülen-Anhänger Mehmet Akildiz* hat Angst, dass die Wohnung seiner Familie in Istanbul nun vom türkischen Staat übernommen wird. Unberechtigt ist diese Befürchtung nicht: Seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 hat die türkische Regierung über 3000 Gebäude verstaatlicht, wie der türkische Finanzminister Naci Agbal letzten Oktober sagte.
Speziell im Fokus der Regierung sind Firmen: 1289 Unternehmen seien bereits enteignet worden, weil die Inhaber «Gülen-Terroristen» seien, schrieben türkische Zeitungen Ende März.
Den Auftakt machte die Verstaatlichung des milliardenschweren Möbelkonzerns der Familie Boydak. In einer aufsehenerregenden Razzia wurde Geschäftsführer Memduh Boydak zusammen mit drei anderen Vorstandsmitgliedern letzten Frühling verhaftet. Noch 2011 hatte Präsident Erdogan Memduh Boydak für dessen Geschäftstüchtigkeit ausgezeichnet. Jetzt macht der Staat ihm zum Vorwurf, dass er die Gülen-Bewegung finanziell unterstützt.
Auch Schweizer Gülen-Anhänger hat alles verloren
In der Schweiz spürt auch Kleinunternehmer Mehmet Akildiz (Name geändert) den Druck. Mehrere Jahre lang hatte er in der Türkei gelebt und eine Firma für Haushaltsgeräte betrieben. 2016 aber hätten seine Kunden die Rechnungen nicht mehr bezahlt, weil er «Gülen-nah» sei.
Als er letzten April in die Schweiz reiste, hätten Mitarbeiter angerufen und gesagt: «Komm zurück, oder du verlierst alles.» Aus Angst vor einer Verhaftung sei er aber nicht in die Türkei geflogen. Nun habe er keinen Kontakt mehr, die Mitarbeiter seien verschwunden, die Homepage der Firma existiere nicht mehr. Seine Investition von über 300'000 Franken habe er abgeschrieben.
«Wenigstens leben wir noch»
Die Recherchen von «10vor10» ergeben: Die Firma gibt es nicht mehr. Auf ihrer Telefonnummer meldet sich nur die Combox einer neuen Firma. In der Schweiz leben Akildiz* und seine Frau nun von der Fürsorge. Sein Blick ist stoisch. Ein Verwandter sei in der Türkei verhaftet worden, monatelang verschwunden und mit psychischen Problemen zurückgekehrt. Sein Sohn sagt: «Wenigstens leben wir noch».