Die Spannungen zwischen türkischstämmigen Menschen mit unterschiedlichen politischen oder ideologischen Ansichten haben zugenommen, sagt Ramazan Özgü aus Zürich. Das sei auch im Alltag spürbar: «Man grüsst sich nicht mehr, Vorurteile werden laut», stellt er fest. Besonders schlimm gehe es im Internet zu und her. In den sozialen Medien würden Hassbotschaften gegen Andersdenkende verbreitet.
In der Schweiz bedeutet Demokratie nicht Machtkampf, sondern Teilnahme.
Özgü ist von diesen Entwicklungen besonders betroffen. Der junge Familienvater ist Geschäftsleiter des Dialog-Instituts, das zur Gülen-Bewegung gehört. Sie wird in der Türkei hart verfolgt, weil ihr Präsident Recep Tayyip Erdogan vorwirft, sie stehe hinter dem Putschversuch vom letzten Sommer.
Özgü ist deshalb in der letzten Zeit nicht mehr in die Türkei gereist, um seine Eltern zu besuchen. Und auch in der Schweiz ist er zurückhaltender geworden. «Man ist vorsichtiger», so Özgü.
Stimmung nicht weiter anheizen
Die Meinungsäusserungsfreiheit ist ihm wichtig. Deshalb sollten seiner Meinung nach türkische Minister das Recht haben, auch in der Schweiz Abstimmungskampf zu betreiben. Allerdings dürften die türkischen Politiker die Stimmung nicht weiter anheizen, wenn sie hierzulande auftreten, betont Özgü. Er verweist dazu auf die politische Kultur der Schweiz, die zu respektieren sei: «Bei uns bedeutet Demokratie nicht Machtkampf, sondern Teilnahme.»
Die geplante türkische Verfassungsreform, die dem Präsidenten mehr Macht geben will, sieht Özgü sehr kritisch. Er hat deshalb vor, abstimmen zu gehen. Allerdings engagiert er sich nicht aktiv im Abstimmungskampf.
Warum kann man nicht auch in der Türkei alle Menschen, die dort leben wollen, mit ihrer eigenen Kultur akzeptieren?
Sehr aktiv in der Nein-Kampagne ist Cafer Sterk. Der Kurde kam Ende der 1980er-Jahre als Flüchtling aus der Türkei in die Schweiz. Heute ist er als Sozialarbeiter in Schlieren tätig und engagiert sich in der Schweiz in der SP und in der Türkei in der kleinen pro-kurdischen Partei HAK-PAR.
Mit Gleichgesinnten organisiert er in verschiedenen Teilen der Schweiz Abstimmungsanlässe, um die Türken davon zu überzeugen, mit Nein zu stimmen. Auch via Internet und mit Telefonanrufen versucht Sterk, die Leute zu mobilisieren.
Verunsicherte Menschen in der Türkei
Die Reformvorschläge der Erdogan-Regierung bringen seiner Ansicht nach nichts Positives. Nötig wäre vielmehr eine Verfassungsreform, welche die Menschenrechte und den Föderalismus stärken und die Position der kurdischen Bevölkerungsgruppen verbessern würde.
Der türkisch-schweizerische Doppelbürger sieht in seiner neuen Heimat ein Modell für die alte Heimat. «Warum kann man nicht auch in der Türkei alle Menschen, die dort leben wollen, mit ihrer eigenen Kultur akzeptieren?», fragt er.
Sterk ist Anfang Woche von einer Reise in der Türkei zurückgekehrt. Dort hat er gespürt, wie ängstlich und verunsichert viele Menschen angesichts der politischen Krise sind. Die Verhaftungen von Oppositionellen seien ein grosses Thema. Er appelliert deshalb an die türkische Regierungsvertreter, sie sollen auch gegenüber ihren Gegnern Respekt zeigen. Egal ob sie in der Türkei oder in der Schweiz auftreten.
Die Forderung des «Blicks» ist eine massive Einschüchterung. Die Stimmung wird dadurch weiter angeheizt.
Etwas anders sieht das Ganze die in Basel lebende Nurgül Icer. Die 27-jährige Türkin trägt ein Kopftuch, das nur ihr Gesicht zeigt, und einen bodenlangen Mantel. Icer ist hier geboren und aufgewachsen. Sie gehört zu der Minderheit der Türkinnen und Türken in der Schweiz, die Erdogans Politik stützt.
In der aufgeheizten Stimmung sei es ihr wichtig, dass auch «ihre» Seite zu Wort komme, sagt Icer. Sie ist Anhängerin der türkisch-nationalistischen MHP, die sich auch «Graue Wölfe» nennt. Die Partei unterstützt offiziell das Referendum von Erdogan.
Verzerrtes Bild der Türkei?
Die junge Frau glaubt nicht, dass durch die Verfassungsänderungen die Demokratie in der Türkei abgeschafft werde. «Die Macht wird nicht allein beim Präsidenten liegen, es wird immer noch Gerichte geben, die Entscheidungen treffen», sagt sie. Schliesslich habe sie die Vorlage ausführlich studiert.
Die Presse in der Schweiz und in Europa zeige ein verzerrtes Bild der Türkei als autokratischen Staat. «Ich habe das in der Türkei nie so erlebt», sagt Icer. Es mache sie nachdenklich, wenn sie in hiesigen Zeitungen Artikel über die Türkei lese. Auch hat sie kein Verständnis für Aktionen, wie jene im «Blick» diese Woche. Der Aufruf an die türkische Bevölkerung in der Schweiz, gegen die Verfassungsreform in ihrem Land zu stimmen, ginge eindeutig zu weit.
Schlimm sei vor allem die Forderung im «Blick», dass diejenigen Türken, die Ja stimmen, die Schweiz verlassen sollen. «Das ist eine massive Einschüchterung. Die Stimmung wird dadurch weiter angeheizt», sagt sie. Die Gräben zwischen den verschiedenen türkischen und kurdischen Gruppierungen würden tiefer. Dabei sei man in den vergangenen Jahren in der Schweiz gut aneinander vorbeigekommen. Man lasse einander in Ruhe.
Kaum ein AKP-Anhänger mag sich äussern
Selbst zwischen türkischen nationalistischen Kreisen und den Kurden in Basel sei die Stimmung mehrheitlich friedlich. Dabei würden sich die konservativen Türken, zu denen auch sie gehört, bewusst zurückhalten, um nicht zu provozieren.
Für Icer ist klar, dass die öffentliche Meinung in der Schweiz klar auf der Seite der Oppositionellen, der Linken und der Kurden sei. So würden auch Propagandaauftritte von dieser Seite geduldet. Doch der Aufschrei sei gross, wenn ein Besuch eines Vertreters der offiziellen Türkei geplant sei – wie etwa jener des Aussenministers.
In dieser Stimmung sei es kein Wunder, dass AKP-Anhänger sich momentan kaum öffentlich äussern.