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Repression Brisante Ursache für überfüllte Westschweizer Gefängnisse

Die Zahl der Verbrechen erklärt nicht, wieso Genf und Waadt mehr Leute ins Gefängnis stecken als andere Kantone. Was dann?

Bois-Mermet, ein Untersuchungsgefängnis in Lausanne, hat 100 Plätze – und in der Regel über 160 Gefangene. Champ-Dollon bei Genf, das grösste Gefängnis der Schweiz, hat knapp 400 Plätze – und über 500 Gefangene.

Dass die Gefängnisse in den beiden bevölkerungsreichsten Kantonen der Westschweiz überbelegt sind, ist unbestritten. Genf und Waadt werden immer wieder dafür kritisiert – zuletzt Mitte Januar von der Anti-Folter-Kommission des Europarats. Als Lösung werden in beiden Kantonen neue Gefängnisse gefordert.

In Genf und in der Waadt sind zu viele im Gefängnis.
Autor: Julie de Dardel Geografieprofessorin an der Universität Genf

Das sei unsinnig, findet Julie de Dardel. Die Geografieprofessorin von der Universität Genf erforscht im Rahmen eines Nationalfondsprojekts den Strafvollzug in der Schweiz und sagt: «Die Gefängnisse in Genf und in der Waadt sind nicht überbelegt, weil es zu wenig Plätze gibt, sondern weil man hier zu viele Leute ins Gefängnis steckt.»

Es sind, gemessen an der Bevölkerung, deutlich mehr als im Schweizer Durchschnitt und deutlich mehr als in anderen Kantonen. Heisst das: Es gibt in Genf und in der Waadt besonders viele Verbrechen und deshalb mehr Gefangene?

Die unterschiedlichen Inhaftierungsraten lassen sich nicht mit Unterschieden in der Kriminalität erklären.
Autor: Julie de Dardel Geografieprofessorin an der Universität Genf

Die Antwort, sagt die Gefängnisforscherin, sei schwierig. Die Statistiken zum Strafvollzug in der Schweiz sind lückenhaft. Und doch: «Wie auch immer man die Entwicklung der Inhaftierungen anschaut, ob über die Jahre hinweg oder im Vergleich mit anderen Kantonen: Man kann die höhere Inhaftierungsrate in Genf und in der Waadt nicht erklären mit Unterschieden bei der Kriminalität.»

Die einzige plausible Erklärung sei, dass es in den beiden Kantonen eine repressivere Strafpolitik gebe.

Wir haben viele Kriminaltouristen aus Frankreich.
Autor: Eric Kaltenrieder Generalstaatsanwalt Kanton Waadt

SRF hat die Generalstaatsanwälte beider Kantone mit dem Befund konfrontiert. Olivier Jornot, der Genfer Generalstaatsanwalt, weigerte sich, die Fragen von SRF zu beantworten. Offener zeigt sich Eric Kaltenrieder, der oberste Staatsanwalt im Kanton Waadt: «Die Bedingungen für eine Inhaftierung sind in einem legalen Rahmen geregelt. Und an diesen Rahmen halten wir uns.»

Allerdings: Derselbe gesetzliche Rahmen gilt auch in den anderen Kantonen der Schweiz – und dort sitzen weniger Leute hinter Gittern.

Die seien auch nicht so nahe an Frankreich, entgegnet der Waadtländer Generalstaatsanwalt: «Am Wochenende kommen Jugendliche aus Frankreich, um hier Delikte zu verüben. Das einzige Mittel, die Bevölkerung vor diesen Kriminellen zu schützen, ist, ihnen die Freiheit zu entziehen.»

Die Strafvollzugsforscherin lässt dieses Argument nicht gelten. Es gebe andere Grenzregionen, welche genau den gleichen Risiken ausgesetzt seien. Basel zum Beispiel: «Die Kriminalität in Basel ist vergleichbar. Aber es werden viel weniger Leute inhaftiert.»

Tickt die Romandie im Strafvollzug französischer?

Zu den genauen Gründen für die markanten Unterschiede zwischen Deutsch- und Westschweiz forscht de Dardel noch. Klar ist für sie schon jetzt, dass weniger Leute hinter Gitter kommen sollten. So viele Leute hinter Gitter zu bringen, sei teuer und bringe wenig für die öffentliche Sicherheit. Eric Kaltenrieder, der Waadtländer Generalstaatsanwalt, sieht das anders. Er gebe in vielen Fällen schlicht keine Alternative zum Gefängnis.

Gefängnis La Brenaz
Legende: In der Nähe von Champ-Dollon la Brenaz war 2008 ein Gefängnis eröffnet worden, für 18 Millionen Franken. Keystone/MARTIAL TREZZINI

Geht es um die Gründe für die übervollen Gefängnisse in der Westschweiz, sind die Forscherin und der Generalstaatsanwalt uneins. Genauso bei den Rezepten gegen die Überbelegung. Unbestritten ist nur: So wie die Situation in den Genfer und Waadtländer Gefängnissen heute ist, so kann es nicht bleiben.

Rendez-vous, 29.01.2025, 12:30 Uhr

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