Altern kann für Betroffene und Angehörige belastend sein. Eine Anlaufstelle ist die Unabhängige Beschwerdestelle für das Alter (UBA), ein gemeinnütziger Verein, der sich gegen häusliche Gewalt, Misshandlung und für ein gewaltfreies Leben im Alter einsetzt. Die Zahlen lassen aufhorchen: 75 Prozent der gemeldeten Fälle finden im häuslichen Bereich statt. 25 Prozent spielt sich in Institutionen ab.
SRF News: Letztes Jahr gab es über 500 Beschwerden. Geht es dabei um körperliche Gewalt?
Ruth Mettler: In 23 Prozent aller Konfliktfälle, die bei uns eingehen, geht es um Gewalt. Dabei unterscheiden wir zwischen körperlicher, psychischer und finanzieller Gewalt sowie Medikamentenmissbrauch oder Grundrechtsverletzungen, aber auch sexualisierter Gewalt.
Jährlich sind über 300'000 Personen über 60 Jahren von Gewalt betroffen. Haben Sie konkrete Fälle?
Eine Nachbarin beobachtet, wie ein Sohn seine betagte Mutter über den Zebrastreifen jagt oder sie zu Hause würgt. Daraufhin gibt es Abklärungen. Wenn andere Ähnliches beobachten, informieren wir die Polizei. In diesem Fall war die Polizei bereits informiert. Jedes Mal sagte die Mutter, ihr gehe es bestens. Wir wissen aber, dass sie sich an die Vorfälle nicht erinnern konnte. Daraufhin suchten wir umgehend einen Heimplatz für die Mutter.
Haben Sie eine Erklärung für häusliche Gewalt unter Familienangehörigen?
Bei Betreuung und Pflege kann jemand an seine Grenzen stossen. Man überlegt sich nicht, worauf man sich einlässt. Wir sagen: Man muss über die Situation sprechen. Vielleicht kann die Betreuung auf mehrere Schultern verteilt werden, vor allem bei Angehörigen von Demenzkranken.
Versuchen Sie auch, therapeutisch zu wirken?
Im geschilderten Fall sorgten wir dafür, dass der Sohn wieder seine Mutter besuchen kann. Eine Beziehung bestand bereits, auch wenn sie schlecht war. Der Sohn war sich nicht bewusst, was er tat. Die Mutter hatte nach wie vor Freude, solange sie den Sohn noch erkannte. In solchen Fällen schauen wir, dass in der Fallbearbeitung ein Helfernetz eingerichtet werden kann.
Auch die pflegebedürftige Person kann Gewalt ausüben.
Besser ist es, wenn wir präventiv tätig werden können. Wenn sich die Gewaltspirale zu drehen beginnt und der Betreuer merkt: Jetzt werde ich ungerecht. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall, dass die pflegebedürftige Person Gewalt ausübt. Das kommt oft vor, wird aber selten gemeldet.
Gibt es auch Gewalt unter älteren Leuten?
Ja, unter Partnern oder in Institutionen. Dort achten aber mehrere Personen darauf und man ist eher geschult, um die Situation zu entschärfen. Im häuslichen Bereich sind die Menschen oft auf sich gestellt.
Wie können Lösungen für Betroffene aussehen?
Zum Beispiel kann das Helfernetz initiiert oder die Spitex geholt werden. Unsere Fachpersonen sind häufig pensioniert und arbeiten freiwillig. Das sind Mediziner, ehemalige Pflegefachpersonen, ehemalige Heimleitende oder Juristinnen und Mediatoren. Sie sind sehr oft bereits auf Augenhöhe mit den Betroffenen. Unsere Mitwirkenden sind geschult auf das Altern, die Krankheitsbilder oder häusliche Gewalt. Weil sie selbst bereits pensioniert sind, wissen sie um die Problematiken.
Der Wunsch, dass es künftig Gewalt im Alter nicht mehr gibt, wäre ein frommer. Was raten Sie Betroffenen?
Sich zu öffnen, sich jemandem anzuvertrauen, den man gut kennt. Erzählen, was passiert, sich melden bei der UBA. Das geht auch anonym. Auch den Pflegenden lege ich ans Herz, sich zu melden und seinem Umfeld davon zu erzählen, dass einem die Energie ausgeht.
Das Gespräch führte Christian Masina.