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Überlastete Justiz Warum dauern Strafprozesse so lange?

Strafprozesse dauern immer länger, Gerichte und Staatsanwaltschaften kommen mit der Arbeit kaum hinterher, an vielen Orten wird Personal aufgestockt. Der Rechtswissenschaftler Sven Zimmerlin identifiziert in einem Buch Ursachen und zeigt Lösungen auf.

Sven Zimmerlin

Dozent für Strafrecht und Strafprozessrecht

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Sven Zimmerlin ist Dozent für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und hat soeben ein Buch zum Thema «Überlastung der Strafjustiz in der Schweiz – Hintergründe und Lösungsansätze» publiziert.

SRF News: Sie haben ein Buch darüber geschrieben, warum die Strafjustiz in der Schweiz so überlastet ist. Ihr Fazit?

Sven Zimmerlin: Ich glaube, es liegt daran, dass das Prozessrecht inzwischen sehr kompliziert geworden ist. Man hat mittlerweile die Parteirechte der beschuldigten Personen und der Opfer so stark ausgebaut, dass es bei der Umsetzung schwierig wird.

Unser Prozessrecht ist recht beschwerdefreundlich ausgestaltet.

Zu welchen Problemen führt diese Überlastung in der Praxis?

Wenn eine Staatsanwältin zwei Fälle pro Tag auf den Tisch bekommt, muss sie auch zwei Fälle pro Tag abschliessen. Der Arbeitsdruck steigt. Das nagt an der Motivation. Und mitunter leidet auch die Qualität. Manche sagen, es handle sich bloss um eine subjektiv empfundene Überlastung der Behörden. Aber in jüngerer Zeit klagt auch die Anwaltschaft darüber, dass sie bei mittelschweren Delikten zwei Jahre auf einen Entscheid warten müssen.

Warum dauern nicht mehr nur komplexe Wirtschaftsstraffälle ewig und ziehen Extraschlaufen, sondern auch ganz «normale» Fälle?

Unser Prozessrecht ist recht beschwerdefreundlich ausgestaltet. Schon im Vorverfahren kann man praktisch gegen alles, was die Polizei oder Staatsanwaltschaft macht, Beschwerde einreichen – bevor der Fall überhaupt am Gericht ist. Und das kann man immer wieder machen. Wir haben Beispiele aus der Praxis, in denen im gleichen Verfahren 17 Beschwerden erhoben wurden. Damit kann ein Verfahren natürlich extrem verzögert und die Gerichte belastet werden.

Ein Soldat führt ein Pferd weg
Legende: Das Militär sichert 2017 die Pferde von einem mutmasslichen Tierquäler in Hefenhofen. Der Fall zieht gerichtlich Extrakreise, weil die Staatsanwaltschaft Fehler begangen haben soll und die Beweise daher nicht verwertbar seien. KEYSTONE/Ennio Leanza

Welche Lösungsvorschläge haben Sie?

Man könnte die Verfahrensrechte auf das reduzieren, was zwingend geboten ist – und diese dann wirklich durchsetzen. Wenn man die Gerichte und Strafverfolgungsbehörden aber nachhaltig entlasten will, braucht es tiefere Eingriffe. Man könnte sich zum Beispiel überlegen: Muss man zwingend alles verfolgen?

Ich würde den Strafverfolgungsbehörden mehr Freiheiten geben, was sie verfolgen wollen.

Heute muss man als Staatsanwaltschaft alle Delikte verfolgen, auch im absoluten Bagatellbereich. Das macht meiner Meinung nach wenig Sinn. Ich würde den Strafverfolgungsbehörden mehr Freiheiten geben, was sie verfolgen wollen. Das würde allerdings bedingen, dass der Gesetzgeber sich genau überlegt, was er mit dem Strafrecht eigentlich will.

Das Gespräch führte Sibilla Bondolfi.

Echo der Zeit, 08.01.2025, 18 Uhr ; 

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