Die Assistenzärztinnen Franziska und Viola (Namen geändert) sitzen in einem Gartenrestaurant mitten in Zürich, nippen an ihren kühlen Drinks und diskutieren über die Ereignisse am Spital in Einsiedeln.
Dieses geriet jüngst in die Schlagzeilen, weil auf einen Schlag alle sieben Assistenzärztinnen und Assistenzärzte gekündigt hatten. Aus Protest gegen die Arbeitsbedingungen.
Erstaunt darüber sind die beiden jungen Frauen nicht. Die Massenkündigung sei zwar aussergewöhnlich – die Arbeitsbedingungen leider nicht.
Ich kenne viele Kolleginnen und Kollegen, die konnten nicht mehr vor lauter Erschöpung, die hatten ein Burn-out.
Die beiden Frauen arbeiten in verschiedenen Spitälern, Überzeiten seien an der Tagesordnung, sagen sie. Das belegt auch eine Umfrage des Verbandes der Schweizerischen Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte VSAO: Demnach verstossen die Arbeitszeiten bei 62 Prozent von fast 3000 Umfrage-Teilnehmenden noch immer gegen das Gesetz. Jede zweite Person steht im Wochenschnitt länger als die rechtlich zulässigen 50 Stunden im Dienst.
Für Viola ist klar: Wenn man so gestresst ist, passieren auch mehr Fehler, und das könne gefährlich sein für die Patienten. Allerdings habe dies im Alltag eigentlich kaum Folgen, trotz teils unhaltbarer Arbeitsbedingungen.
Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel Patienten aushalten. Man kann vieles vergessen oder falsch verordnen, und es passiert nichts.
Dass Assistenzärztinnen und -ärzte zu viel arbeiten, ist nicht neu. Dies war schon immer so. Erstaunlich ist, dass sich daran nichts ändert. Denn die frisch ausgebildeten Jungärztinnen und Jungärzte sind das Rückgrat eines jeden Spitals.
Fast die Hälfte aller Ärzte an den Schweizer Spitälern sind Assistenzärzte, also junge Menschen, die erst gerade ihr Medizinstudium abgeschlossen haben. Sie sind es, die in erster Linie Patienten beurteilen und betreuen.
Erst seit 2005 sind Assistenzärztinnen überhaupt dem Arbeitsgesetz unterstellt. Vorher gab es gar keine gesetzliche Höchstarbeitszeit. Und bis in die 1940-er Jahre arbeiteten frisch ausgebildete Ärzte sogar gratis. Erst nach ihrer Praxiszeit, welche fünf bis sechs Jahre dauert, erhielten sie ihren ersten Lohn.
Verband will Arbeitszeit der Assistenzärzte senken
Angelo Barrile ist selbst Arzt, SP-Nationalrat und vor allem Präsident des Verbandes der Assistenz- und Oberärztinnen und –ärzte. Er kennt das Problem der Überlastung.
Man habe zwar 2005 die 50-Stunden-Woche eingeführt, aber das Personal sei nur unwesentlich aufgestockt worden. Das Resultat: Es fallen zig Überstunden an. Die effektive Überzeit könne aber nur ungenügend kompensiert werden. Teilweise verlangten Vorgesetzte von den Assistenzärzten, dass sie ausstempeln und dann weiterarbeiteten, so Barrile.
Vorstösse auf politischer Ebene, mehr Ärztinnen und Ärzte auszubilden und damit das Personal zu entlasten, sind bisher in der nationalen Politik gescheitert. Deshalb setzt der Verband jetzt auf mehr Arbeitszeitkontrollen in den Spitälern.
Zudem rät Barrile den betroffenen Mitarbeitenden dringend, sich bei Missständen an die Meldestelle des VSAO zu wenden. Diese ist seit Mai in Betrieb und wird schon rege genutzt. Bereits über 60 Meldungen sind eingegangen. Bei den meisten geht es um Verstösse gegen das Arbeitsgesetz.
Mittelfristig brauche es aber eine Reduktion der Höchstarbeitszeit, ist Barrile überzeugt. Derzeit sei eine Arbeitsgruppe daran, die Einführung einer 42-Stunden-Woche zu prüfen. Barrile ist sich bewusst, dass eine Reduktion der Arbeitszeit zur Folge hätte, dass mehr Personal eingestellt werden müsste; dies, um zu verhindern, dass dann einfach noch mehr Überzeit anfällt. Das koste zwar, aber dafür habe man weniger Aussteigerinnen, zufriedenere Angestellte, etc. Das zahle sich mittelfristig aus.
Spitalverband will Büroarbeit für Ärzte reduzieren
Beim Spitalverband H+ ist man weniger begeistert von den Plänen des Assistenzärztinnenverbandes. Assistenzärztinnen und -ärzte befänden sich noch in der Weiterbildung, deshalb sei eine Reduktion der Wochenarbeitszeit schwierig umzusetzen, sagt Werner Kübler, Spitaldirektor des Universitätsspitals Basel und Vizepräsident des Spitalverbandes H+.
Komme hinzu, dass eine 42-Stunden-Woche dazu führen würde, dass man mehr Ärztinnen und Ärzt einstellen müsste. Diese seien aber auf dem Markt gar nicht verfügbar. Stattdessen setzt der Spitalverband H+ bei der Administration an.
Die Büroarbeit habe in den letzten Jahren laufend zugenommen, da Bund und Kantone immer mehr Daten verlangten. Diese Arbeit dürfe nicht mehr werden. Der Spitalverband hofft hier auf die Digitalisierung. Insbesondere von der Einführung des elektronischen Patientendossiers erhofft man sich eine grosse Entlastung für die Spitäler.
Assistenzärztinnen wollen mehr Arbeitskolleginnen und -kollegen
Auch Franziska und Viola macht die viele Büroarbeit Mühe. Sie fänden es sinnvoll, wenn die administrative Arbeit vermehrt ausgelagert werden könnte. Schliesslich sei man als Ärztin in erster Linie für die Patientinnen und Patienten da. Und nicht, um stundenlang irgendwelche Liste abzutippen, meint Viola.
Nur die Arbeitszeit auf dem Papier zu reduzieren, bringt nichts
Skeptisch sind die beiden jungen Frauen hingegen, was die Idee der 42-Stunden-Woche betrifft. Die Arbeit müsse auf mehr Schultern verteilt werden, so Viola.
Politik sieht vorerst Spitäler und Gewerkschaften in der Verantwortung
Sowohl von der Linken als auch auf der bürgerlichen Seite sind derzeit keine politischen Vorstösse bekannt, welche sich der Arbeitssituation der Assistenzärzte annehmen. Erst kürzlich sind Vorstösse der SP (Barrile und Carrobio Guscetti) im Parlament versenkt worden, welche verlangten, dass die Schweiz mehr Ärztinnen und Ärzte ausbildet. Neue Vorstösse sind nicht geplant.
Für Ruth Humbel, Gesundheitspolitikerin der Mitte-Partei, ist die Einhaltung des Arbeitsgesetzes in erster Linie Sache der Sozialpartner und der Kantone. Gebe es Gesetzesverstösse, müsse bei den entsprechenden Spitälern interveniert werden. Dies sei aber Sache der Kantone.
SP-Vorstösse für mehr Ärztinnen und Ärzte
So schnell ändert sich nichts
Die Einführung einer 42-Stunden-Woche für Assistenzärztinnen und -ärzte dürfte also noch auf sich warten lassen. Und auch sonst wird sich für Viola und Franziska so schnell nichts ändern im Arbeitsalltag. Würden sie dennoch wieder Medizin studieren?
Ich würde meinem Kind nicht mehr empfehlen, Medizin zu studieren
Das sei eine schwierige Frage, meint Franziska. Wahrscheinlich würde sie beruflich nochmals denselben Weg einschlagen, denn sie arbeite sehr gerne mit Patientinnen und Patienten.
Viola erzählt, es habe einige Momente gegeben, da habe sie ans Aufhören gedacht. Dennoch gefalle ihr der Beruf eigentlich – weiterempfehlen würde sie ihn trotzdem nicht.