Ein Plakat an einer Demonstration auf dem Bundesplatz löste im Frühling 2017 eine mittlere Staatsaffäre aus: Das Transparent zeigte den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, auf dessen Kopf eine Pistole gerichtet war. Dazu stand wörtlich übersetzt geschrieben: «Tötet Erdogan mit seinen eigenen Waffen!».
Kurz nachdem Bilder des Plakats in sozialen Medien die Runde gemacht hatten, bestellte die türkische Regierung die Vize-Botschafterin ein und verlangte Strafen für die Urheber. «Schande über Euch»: Sogar Erdogan selbst äusserte sich an die Adresse der Schweiz.
In diesem politisch aufgeladenen Prozess fällt das Regionalgericht Bern-Mittelland am Mittwoch das Urteil. Die Staatsanwaltschaft sieht im Plakat eine «eindeutige Gewaltaufforderung». Sie fordert für die vier beschuldigten Personen teilweise bedingte, teilweise unbedingte Geldstrafen im Umfang von 32 bis 40 Tagessätzen.
Drohungen gegen Beschuldigte
«Schweiz aktuell» konnte mit beschuldigen Personen sprechen, die aus Sicherheitsgründen anonym bleiben wollen. Auch der seit Januar 2022 laufende Prozess findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. «Auf sozialen Medien haben wir Hassnachrichten und Drohungen erhalten. Aber das nehmen wir nicht allzu ernst», sagt eine Person. Die Familie einer Zeugenperson in der Türkei sei allerdings vor dem Prozess mehrfach von der Polizei besucht worden.
Auf sozialen Medien haben wir Hassnachrichten und Drohungen erhalten. Aber das nehmen wir nicht allzu ernst.
Vor dem Berner Gericht verweigerten die Beschuldigten ihre Aussagen mehrheitlich. Stattdessen nutzten sie ihre Redezeit, um auf die politische Situation von Kurden in Syrien und der Türkei aufmerksam zu machen. Die Vorwürfe der Berner Staatsanwaltschaft lassen sie nicht gelten. Es sei nicht bewiesen, wer das Transparent gemacht habe, so eine Person gegenüber SRF.
Es gebe zudem Interpretationsspielraum, was genau die Aussage des Plakates sei. «Wir waren mit einem anderen Plakat an der Demo», so eine beschuldigte Person weiter. Weil man rund um den Demo-Wagen gestanden sei, hätte die Polizei einfach sie «herausgepickt».
Prozess betritt strafrechtliches Neuland
Bei der ganzen politischen Dimension des Prozesses sind die strafrechtlichen Knackpunkte fast untergegangen. Es geht um die rechtliche Frage ist, ob das «Kill Erdogan»-Plakat tatsächlich eine öffentliche Aufforderung zu einem Verbrechen gemäss Art. 259 des Schweizer Strafgesetzbuchs darstellt.
Diese Frage sei nicht klar zu beantworten, sagt Strafrechts-Professor Jonas Weber von der Uni Bern. Auch, weil es kaum vergleichbaren Fälle gebe. «Die Frage ist zudem, ob der Artikel überhaupt anwendbar ist, wenn Straftaten im Ausland begangen werden könnten.» Weiter habe man über Äusserungen an einer Kundgebung zu urteilen, wo das Demonstrationsrecht gelte. «Da hat man in der Regel einen sehr grosszügigen Massstab, den man ansetzt».
Weitere Demo angekündigt
Das Urteil wird auch von der Türkei genau beobachtet werden. Die Staatsanwaltschaft forderte in ihrem Plädoyer Schuldsprüche für die vier Angeklagten. Auf Fotos und Video seien sie in unmittelbarer Nähe des Plakates zu sehen gewesen. «Damit haben sie einen Beitrag geleistet, die Botschaft des Plakates zu verbreiten – unabhängig davon, ob sie das Transparent selbst hergestellt hatten», so die Anklage.
Derweil haben linksautonome Kreise in Bern für Mittwochabend eine weitere Solidaritäts-Demonstration angekündigt. In einem Aufruf heisst es, der «Widerstand gegen Erdogan und seine Kollaborateure» müsse weitergehen. So oder so kann gegen das Urteil Rekurs eingelegt werden.