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Uni-Kinderspital Zürich «Es gibt eine grosse Dunkelziffer bei den Kindesmisshandlungen»

Im letzten Jahr wurden wieder mehr Verdachtsfälle von Kindern, die psychisch, körperlich oder sexuell misshandelt worden sein könnten, gemeldet. Das Kinderspital Zürich hat fast 650 Fälle registriert. Das sind mehr als im Jahr zuvor. Bei der Mehrheit hat sich der Verdacht auf Kindesmisshandlung bestätigt. Anja Böni ist eine der Ärztinnen, die sich mit solchen Fällen befasst.

Anja Böni

Fachärztin

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Böni ist für Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und - psychotherapie am Universitäts-Kinderspital Zürich.

SRF News: Wie erklärt sich die Zunahme an festgestellten Kindesmisshandlungen?

Anja Böni: Wir gehen davon aus, dass die Tatsache, dass wir dieses Jahr insgesamt mehr Kinder gesehen haben – 6 Prozent mehr – auch dazu geführt hat, dass wir mehr Kindesmisshandlungen feststellen. Daneben arbeiten wir daran, dass unsere Mitarbeiter auf das Thema Kindesmisshandlung sensibilisiert sind und besser hinschauen.

Kindesmisshandlung ist oft eine Reaktion auf Stresssituationen wie etwa die Corona-Pandemie. Im letzten Jahr konnten wir jedoch in den Alltag zurückkehren. Hätte die Anzahl der Kindesmisshandlungen nicht abnehmen sollen?

Man muss vor Augen haben, dass es noch eine sehr grosse Dunkelziffer gibt. Es gibt Misshandlungen, die nicht gesehen werden. Das heisst: Schwankungen bei unseren Zahlen sagen nicht unbedingt etwas darüber aus, wie viele Kinder wirklich misshandelt wurden. Zudem ist die Corona-Zeit nicht für alle so richtig vorbei. Es gibt noch Nachwirkungen, seien das finanzielle Einbussen oder die Verarbeitung dieser ganzen Zeit.

Eine kleine Hand kommt halb hinter einer schwarzen Tischplatte hervor. Symbolbild
Legende: Psychische MIsshandlung von Kindern ist oft schwer feststellbar. (Symbolbild) KEYSTONE/Christof Schuerp

Mit welchen für Fällen haben Sie es in Ihrem Arbeitsalltag genau zu tun?

Im Spital bin ich in beiden Funktionen angestellt, als Kinder- und Jugendpsychiaterin und auch in der Kinderschutzgruppe. Von dem her sehe ich grundsätzlich alle Arten von Misshandlungen: die körperliche Misshandlung, die psychische Misshandlung, die Vernachlässigung, aber auch die sexuelle Misshandlung.

Grundsätzlich gibt es eine ganze Liste, welche Verhaltensweisen als psychische Gewalt gelten. Allen gemeinsam ist, dass das Kind in seiner Person oder in seinen Bedürfnissen nicht wirklich wahrgenommen wird.

Wann fängt psychische Gewalt bei Kindern an?

Grundsätzlich gibt es eine ganze Liste, welche Verhaltensweisen als psychische Gewalt gelten. Allen gemeinsam ist, dass das Kind in seiner Person oder in seinen Bedürfnissen nicht wirklich wahrgenommen wird. Oder auch, dass man dem Kind zu verstehen gibt, es sei nicht wichtig oder nichts wert. Das Selbstbild des Kindes oder seine Bedürfnisse leiden darunter.

Die Kindesmisshandlung findet oft in einem familiären Rahmen statt, hinter verschlossenen Türen. Wie erkennen Sie, ob es sich um eine Misshandlung handelt oder nicht?

Bei der körperlichen Gewalt ist nicht selten etwas sichtbar. Da gibt es Richtlinien, welche Blutergüsse auf einen Unfall hindeuten und wo man misstrauisch sein müsste, dass da eine Misshandlung vorliegen könnte. Bei psychischer Gewalt ist das nicht so. Man kann nicht sagen, dass ein Kind sicher psychisch misshandelt wurde, wenn es sich so oder so benimmt. Was psychische Misshandlung betrifft, wird nicht selten der Umgang zwischen Eltern und Kind beobachtet. Aber es kann auch sein, dass ein Kind an einen Punkt kommt, an dem es selbstständig davon erzählt.

Man versucht, die Leute zu sensibilisieren, dass sie sich Unterstützung holen, bevor sie ihr Kind misshandeln.

Letztes Jahr wurden so viele Misshandlungen festgestellt wie noch nie. Welche Schritte werden unternommen, um die Anzahl von Kindesmisshandlung in der Schweiz zu senken?

Eine grosse Massnahme ist die Prävention. Man versucht, die Leute zu sensibilisieren. Dass sie sich Unterstützung holen, bevor sie ihr Kind misshandeln. Es ist aber auch zunehmend eine Diskussion, die in der Gesellschaft geführt wird.

Das Gespräch führte Nicoletta Gueorguiev .

SRF 4 News, 27.01.2023; 06:47 Uhr ; 

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