Der 6. März 1994 wurde für Zürich zur Zeitenwende: Mit dem Wahlsieg von Monika Stocker, der Galionsfigur der Zürcher Grünen, zog die fünfte Vertreterin des links-grünen Lagers in den neunköpfigen Stadtrat ein. Erstmals seit Jahrzehnten war die Stadtzürcher Regierung wieder eindeutig in der Hand von SP und Grünen – und blieb es bis heute: 2018 stellt das rot-grüne Lager gar sechs der neun Sitze.
Diese Kräfteverschiebung ist Beispiel dafür, was seit den frühen 1990er-Jahren in den meisten grossen Schweizer Städten passierte. Mit Daten des Schweizerischen Städteverbands zeigt SRF Data detailliert auf, wie die linken Parteien ihre Vorherrschaft in den Städten schrittweise ausbauen konnten.
In den Regierungen der zehn grössten Städte konnte die Linke (SP, Grüne, linke Kleinparteien) seit 1993 massiv Sitze zulegen: Von einem Anteil von knapp 40 Prozent auf nahezu 60 Prozent im Jahr 2018. Im gleichen Zeitraum büsste die Rechte (SVP, FDP, Lega und rechte Kleinparteien) in den Stadtregierungen fast die Hälfte ihrer Sitze ein.
Ein modernes Phänomen
Diese Entwicklung verdeutlicht auch, wie jung das Phänomen der links-grünen Dominanz in den Städten tatsächlich ist: Erst 1997 löste das linke Lager die Bürgerlichen als stärkste Kraft ab. Zuvor waren die meisten Städte während Jahrzehnten bürgerlich regiert worden.
Der Linksrutsch in den 90er-Jahren erfolgte schrittweise und breitete sich von Stadt zu Stadt aus: Zuerst kam die Wende in Genf, Lausanne und Bern. Nach Zürich im Jahr 1994 übernahmen die Linken 1997 auch in Biel das Steuer, 2005 erstmals in Basel und Winterthur. Heute sind sieben der zehn grössten Städte in der Hand einer links-grünen Regierung.
Eine bürgerliche Mehrheit gibt es heute lediglich in Lugano, wo die rechtspopulistische Lega dei Ticinesi drei der sieben Stadträte stellt. Zwei weitere Sitze hält die FDP.
Ausgewogeneres Bild bei Stadtparlamenten
Eine ähnliche Entwicklung lässt sich bei den Parlamenten der zehn grössten Städte beobachten, wenn auch weniger ausgeprägt.
Insgesamt ist das Kräfteverhältnis in der Legislative ausgewogener als in der Exekutive. Zwar sind die Bürgerlichen spätestens seit 2004 auch in den Parlamenten nicht mehr die stärkste Kraft, doch der Vorsprung der Linken betrug seither nie mehr als 10 Prozentpunkte.
Dass die Mehrheiten in den Parlamenten knapper sind, dürfte auch am Wahlsystem liegen: Während die meisten Stadträte – mit Ausnahme von Bern – im Majorz gewählt werden, finden Parlamentswahlen meist im Proporz statt. Das bedeutet, die Sitze werden unter den Parteien proportional zu den eingegangenen Stimmen verteilt. In der Regel führt dies zu weniger klaren Mehrheiten, weil das Resultat die tatsächlichen Verhältnisse in der Wählerschaft deutlicher widerspiegelt.
Ein weiterer Grund dürfte das Erstarken der sogenannten «Neuen Mitte» sein. Mit der GLP und der BDP traten vor rund zehn Jahren zwei Parteien auf das politische Parkett, die dem linken sowie dem rechten Lager einige Wählerstimmen abgerungen haben dürften. Auch hier spielt das Wahlsystem eine entscheidende Rolle: Im Vergleich zum Majorz- haben kleinere Parteien im Proporzsystem eine bessere Chance, Wählerstimmen in Mandate zu verwandeln.
Verluste in Genf
Ein Blick auf die einzelnen Städte zeigt ein durchmischtes Bild. Zwar konnte die Linke ihren Wähleranteil in Städten wie Zürich, Basel, Bern oder St. Gallen deutlich erhöhen. Eine absolute Mehrheit geniesst sie aber nur in Zürich, Lausanne und Bern. Im Stadtparlament von Genf büsste sie ihre Mehrheit im gleichen Zeitraum sogar ein.
Egal, ob in der Exekutive oder in der Legislative, die zehn grössten Schweizer Städte sind in den vergangenen 25 Jahren deutlich nach links gerutscht. Zwei Faktoren könnten diese Entwicklung erklären.
Einerseits der soziostrukturelle Wandel: Bis in die 1980er-Jahre waren viele Städter aus der Mittelschicht in die Vorortsgemeinden abgewandert. Die Bezeichnung der «A-Städte» etablierte sich, denn in den urbanen Zentren verblieben Arme, Alte, Ausländer und Arbeitslose. Jene Bevölkerungsgruppen, die von der Umverteilungspolitik der Linken profitierten. Sie verhalfen diesen zum Aufstieg und ermöglichten so den Ausbau des Bildungs-, Kultur- und Betreuungsangebots. Das wiederum machte die Städte für gebildete, gesellschaftsliberale Menschen, die vorwiegend links-grün wählen, attraktiv.
Stadt-Land-Graben reisst auf
Fast zeitgleich mit dem Erstarken der Linken in den Städten erlebte die SVP dank breiter Unterstützung auf dem Land ihren nationalen Aufschwung. Für Politologe Sean Müller von der Universität Bern ist dies kein Zufall. Beide Entwicklungen haben für ihn ein und dieselbe Ursache: «Der Klassenkonflikt verliert an Bedeutung. Dafür werden sogenannte Wertefragen wichtiger, also Fragen um die internationale Einbindung oder die kulturelle und politische Identität der Schweiz.» Es sind jene Fragen, die in der Schweiz zunehmend einen Stadt-Land-Graben aufreissen – und den entsprechenden Parteien Wahlgewinne einfahren.
Dies stellt bürgerliche Parteien in Städten zunehmend unter Druck. Laut Sean Müller bleiben ihnen zwei Optionen: Entweder sie springen auf bestehende Themen auf (z.B. Wohnungsbau, Velowege) oder die Parteien probieren, neue Akzente zu setzen (z.B. Parkplätze, KMUs). Beide Wege hält Müller für schwierig: «Einerseits wählen Wählerinnen und Wähler eher das in ihren Augen glaubwürdigere Original und andererseits entscheiden sich auch Einwohnerinnen und Einwohner von Städten im Zweifelsfall für den Status Quo.»
Eine Herausforderung, die die FDP jetzt offensiv angehen will: Nach den letzten Wahlen vom 4. März 2018 in Zürich lancierte sie das Projekt «FDP Urban», an dem Stadtparteien der acht grössten Schweizer Städte beteiligt sind. Es geht dabei um die Frage, wie das Parteiprogramm stärker auf urbane Themen ausgerichtet werden kann. Ob die FDP damit den rot-grünen Vormarsch zu bremsen vermag, bleibt abzuwarten.