Das Bundesgericht darf bis zu einem gewissen Mass korrigierend eingreifen, wenn Gesetze in ihrer Anwendung gegen Grundrechte verstossen, die von der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützt sind.
Der Ständerat will jedoch nicht, dass die Kompetenz des obersten Schweizer Gerichts auf weitere Bereiche ausgeweitet wird. Am Montagabend hat er die erweiterte Verfassungsgerichtsbarkeit auch für Bundesgesetze mit 29 zu 15 Stimmen deutlich abgelehnt.
Die Eidgenössischen Räte können also auch weiterhin Bundesgesetze erlassen, die der Verfassung widersprechen. Die Bundesverfassung selber verbietet den Gerichten, dagegen einzuschreiten. Das Bundesgericht soll auch in Zukunft Gesetze anwenden müssen, die der Verfassung widersprechen.
Fässler: Volksentscheide könnten umgestossen werden
Vehement gegen eine Ausweitung der Kompetenzen des Bundesgerichts sprach sich der Appenzeller Mitte-Ständerat Daniel Fässler aus. «Die Vorstellung, dass ein Richtergremium von fünf oder sieben Personen einen Volksentscheid umstossen könnte, wenn möglich durch ein Zufallsmehr mit einer Stimme Unterschied, ist für mich als Demokrat unerträglich.»
Ich habe eine gewisse Sympathie, die Verfassungsgerichtsbarkeit auszudehnen auf Noterlasse und bundesrätliche Notverordnungen
Der parteilose Schaffhauser Thomas Minder, der in der SVP-Fraktion politisiert, tat sich schwerer mit der Frage. Auch er will den Richterinnen und Richtern nicht zu viel Macht geben. Mit Blick auf die bundesrätlichen Notverordnungen in der Corona-Zeit sieht er aber Handlungsbedarf.
Minder sieht «inhärentes Rechtschutzdefizit»
«Hier besteht tatsächlich, da muss man nicht einmal Massnahmen-Kritiker sein, ein inhärentes Rechtsschutzdefizit. Ich habe eine gewisse Sympathie, die Verfassungsgerichtsbarkeit auszudehnen auf die Noterlasse und bundesrätlichen Notverordnungen», so Minder.
Klar für erweiterte Kompetenzen des Bundesgerichts ist der Zürcher Sozialdemokrat Daniel Jositsch. Er versuchte in der Ratsdebatte auch jene zu überzeugen, die normalerweise politisch anders denken. «Ich war gegen die Masseneinwanderungsinitiative, ich war fundamental dagegen und habe dagegen gekämpft, aber verloren. Aber es hat mir wirklich weh getan, als ich gesehen habe, wie wir diese Bestimmung mit Füssen getreten haben.» Denn die Initiative sei nie richtig umgesetzt worden.
Dem widerspricht Bundesrätin Karin Keller-Sutter. Das Volk habe ja später selber eine scharfe Umsetzung abgelehnt, mit dem deutlichen Nein zur Begrenzungsinitiative. Und habe damit selber korrigierend eingegriffen – ganz ohne Verfassungsgericht.
Kein politisches Lager geschlossen für Reform
Auch das Beispiel der Corona-Massnahmen lässt Keller-Sutter nicht gelten. Bei den zwei Volksabstimmungen zu den Corona-Massnahmen hätten sich die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger «nach intensiven Debatten zweimal sehr deutlich hinter die Corona-Politik von Bundesrat und Parlament gestellt», sagte die Justizministerin.
Der Ständerat hat die erweiterte Verfassungsgerichtsbarkeit schlussendlich auch deshalb abgelehnt, weil kein politisches Lager geschlossen für diese Reform war. Das Thema dürfte damit für einige Jahre vom Tisch sein.