Die vergangenen kantonalen Wahlen in der Waadt und in Bern sowie die Gemeindewahlen in Zürich wurden von vielen als Stimmungstest für die nationalen Wahlen 2023 gesehen. Die SP als grosse Verliererin muss sich Sorgen machen. Aber auch die SVP hat Stimmen eingebüsst. Was sagt das über den Zustand der grössten Partei der Schweiz?
Das Bild der SVP ist vielschichtig: Bei Wahlen in Kantonsregierungen war sie durchaus erfolgreich; bei den Parlamentswahlen musste sie aber übers Ganze gesehen Verluste einstecken. Zudem sagt Politbeobachter Michael Hermann: «Was auffällt, ist das sehr schlechte Abschneiden der SVP in den Agglomerationen, den Kleinstädten, gerade auch bei Exekutivwahlen.»
Mit ihrer Politik gegen die Städte und dem Pflegen des Stadt-Land-Grabens treibt die SVP die Agglomerationen noch weiter von sich weg.
Noch vor wenigen Jahren wandten sich die Agglomerationen unter dem Eindruck der starken Zuwanderung nach rechts. Doch nun seien diese urbaner geworden, die Menschen wollten einen besseren ÖV, Tagesstrukturen für ihre Kinder, betont Hermann: «Die grosse Herausforderung für die SVP ist, dass sie für diese neu orientierten Agglomerationen nicht wirklich ein Angebot hat. Mit ihrer Politik gegen die Städte und dem Pflegen des Stadt-Land-Grabens treibt sie diese noch weiter von sich weg.»
Früher habe die Partei profitiert, wenn sie sich gegen alle anderen gestellt habe. Heute vertreibe sie mit gewissen Positionsbezügen Wählerinnen und Wähler; mit der Kritik an den Städten etwa, mit der Positionierung in der Coronakrise, und jetzt mit der Putin-Nähe mancher Partei-Exponenten im Ukraine-Krieg, erklärt Hermann: «Mit ihren Positionierungen gesellt sie sich häufig zu extremen Gruppierungen wie den ‹Freiheitstrychlern› oder jetzt auch in die Nähe von Putin. Damit kann sie in der konservativen Mitte der Gesellschaft nicht wirklich Sympathien holen.»
Die Partei wirkt unter Marco Chiesa orientierungslos.
Das unterstreicht auch Politwissenschaftler Claude Longchamp: «Man macht der SVP heute offen den Vorwurf, sie würde Oligarchen unterstützen und hätte während Jahren für sie das Terrain geebnet. Man macht ihr den Vorwurf, sie sei eine Putin-Versteher-Partei.»
Longchamp geht sogar noch weiter: Er stellt die Positionierung mancher SVP-Exponenten im Ukraine-Krieg und das unbeirrte Festhalten auch an einer traditionellen Neutralitätspolitik in den Kontext gewisser wirtschaftlicher Interessen, dass Oligarchen ihr Vermögen in der Schweiz deponieren. Und er sagt: «Heute merkt man, dass diese Interessenvertretung – mitunter auch für ausländische Interessen in der Schweiz – bei der SVP sehr gut verankert ist. Für eine Partei, die sich sehr national oder vielleicht sogar nationalistisch profiliert hat, ist das ein doppeltes Handicap.»
Es ist Gift für eine Partei im Hinblick auf kommende Wahlen, wenn sie nicht geschlossen auftreten kann.
Allerdings haben die Coronakrise und der Ukraine-Krieg parteiintern durchaus zu Konflikten geführt. Nicht alle waren und sind einverstanden mit der dominierenden Haltung. So sagt Adrian Vatter, Politologe an der Uni Bern: «Wir sehen heute Flügelkämpfe. Teilweise widersprechen sich die Vertreterinnen und Vertreter der SVP. Es ist Gift für eine Partei im Hinblick auf kommende Wahlen, wenn sie nicht geschlossen auftreten kann.»
Damit richtet sich der Blick auf die Parteispitze. Denn es wäre ihre Aufgabe, die Partei auf Kurs zu bringen. Nochmals Longchamp: «Die Partei wirkt unter Marco Chiesa orientierungslos. Seine Leutnants bestimmen die Sichtweise auf die Partei und tragen die Projekte nach aussen. Er selber ist sehr wenig präsent, insbesondere in der deutschsprachigen Schweiz. Das schadet der Partei.»
Fazit: eine schwache Spitze, Flügelkämpfe und Positionierungen, die der Partei schadeten.