Seit 1994 hat Alexander Lukaschenko in Belarus ein Regime aufgebaut, das als letzte Diktatur Europas gilt. Die Opposition lebt gefährlich. Drei Gegner Lukaschenkos sind seit 1999 spurlos verschwunden. Die Familien wussten lange nicht, was mit ihnen passiert ist.
Bis im Jahr 2019 ein Belarusse in einem Dokumentarfilm der Deutschen Welle behauptete, die Männer seien tot. Er wisse das, weil er als Mitglied einer Spezialeinheit an deren Ermordung beteiligt gewesen sei. Hätte er sich geweigert, mitzumachen, so wäre auch er erschossen worden.
Nun wolle das Regime ihn als Zeugen beseitigen, deshalb sei er in ein anderes Land geflüchtet. Wohin genau, das wollte er im Film nicht sagen. Aufgrund der Landschaftsaufnahmen und der Häuser war jedoch unschwer erkennbar, dass es sich um die Ostschweiz handelte.
Das fiel auch «Trial International» auf. Die Genfer Nichtregierungsorganisation (NGO) hat sich darauf spezialisiert, internationale Verbrechen wie Folter, Kriegsverbrechen oder Verschwindenlassen von Personen gestützt auf das Weltrechtsprinzip in anderen Ländern vor Gericht zu bringen. Die Nichtregierungsorganisation konnte den Mann im Kanton St. Gallen lokalisieren und erstattete zusammen mit anderen NGOs und Angehörigen der Opfer Anzeige.
Schweizer Behörde ermittelt
Tatsächlich nahm die St. Galler Staatsanwaltschaft Ermittlungen auf und erhob im Mai 2022 Anklage. Im September kommt es voraussichtlich zu einer Gerichtsverhandlung am Kreisgericht Rorschach.
Möglich macht das ein 2017 ins Schweizer Strafgesetzbuch eingefügter Artikel, wonach das Verschwindenlassen von Personen auch dann in der Schweiz strafbar ist, wenn die Tat im Ausland begangen wurde. Einzige Voraussetzung: Der Täter befindet sich in der Schweiz und wird nicht ausgeliefert.
Es ist das erste Mal, dass dieser Artikel des Schweizer Strafgesetzbuches zur Anwendung kommt.
Eine Auslieferung des Mannes an Belarus ist zurzeit ausgeschlossen. Laut St. Galler Staatsanwaltschaft drohen dem Angeklagten in Belarus Folter und Tötung. Und die Regierung von Lukaschenko wird die Morde von Minsk ohnehin nicht untersuchen wollen. So kommt es zu einem laut NGOs «historischen» Prozess: «Es ist das erste Mal, dass dieser Artikel des Schweizer Strafgesetzbuches zur Anwendung kommt», sagt Benoit Meystre von «Trial International».
Die Rolle von Lukaschenko
Die Töchter der Opfer erhoffen sich vom Urteil endlich Gewissheit über das Schicksal und den Verbleib ihrer Väter, wie der Anwalt der Angehörigen mitteilt. Vielleicht werden im Prozess sogar die Verantwortlichen identifiziert.
«Aufgrund der Schilderungen des Angeklagten ist klar, dass der Befehl von ganz weit oben kam», so Meystre von «Trial International». «Die Spezialeinheit wurde entweder von Lukaschenko selbst oder von einer ihm nahestehenden Person befehligt.»
Laut Meystre ist der Prozess auch deshalb historisch, weil erstmals Verbrechen des belarussischen Regimes im Ausland untersucht werden. Vor Gericht wird allerdings zu klären sein, wie glaubwürdig der Angeklagte ist: Hat sich wirklich alles so zugetragen, wie er sagt, oder hat er es nur erfunden, um Asyl zu bekommen?
Der Angeklagte selbst will sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht öffentlich äussern. Es gilt die Unschuldsvermutung.