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Fluch und Segen zugleich: Das Autobahnviadukt von Beckenried
Aus Regionaljournal Zentralschweiz vom 16.07.2022. Bild: Keystone
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Viadukt von Beckenried Diese Autobahnbrücke lässt auch nach 42 Jahren niemanden kalt

Seit 1980 thront das Lehnenviadukt über Beckenried. Eine Beleidigung für Augen und Ohren – und doch wichtig fürs Dorf.

Wer am Steuer eines der gut 20'000 Fahrzeuge sitzt, die jeden Tag bei Beckenried (NW) am Vierwaldstättersee über die A2 brausen, bekommt gar nicht recht mit, dass der Weg hier über ein Viadukt führt. Und auch nicht, dass darunter ein Dorf liegt – eines, das sich nie richtig damit abgefunden hat, dass in den 1970er-Jahren quer über seine Matten und Felder das Lehnenviadukt gebaut wurde, die zweitgrösste Autobahnbrücke der Schweiz.

Damals mussten Wohnhäuser dem Viadukt weichen, Bauern ihren Betrieb aufgeben. Das wuchtige Betonband hat Beckenried zweigeteilt, den Menschen Lärm gebracht, das Landschaftsbild zerstört.

Entsprechend zwiespältig ist das Verhältnis der Bevölkerung von Beckenried zu dem gigantischen Bauwerk über ihren Köpfen. «Es wäre schöner, wenn es nicht da wäre», sagt Beat Wymann, der während der Bauzeit im Gemeinderat war. Und trotzdem, sagt der heutige Gemeindepräsident Bruno Käslin: «Es ist unser Anschluss zur Welt.»

Vom kleinen Dorf direkt in die weite Welt

Das ist nicht zu unterschätzen. Seit der Eröffnung des Viadukts 1980 liegt Beckenried an einer der wichtigsten Nord-Süd-Achsen Europas. Und dies, nachdem es – wie der ganze Kanton Nidwalden – jahrhundertelang nur mühsam über den Seeweg erreichbar gewesen war.

Nidwalden – lange Zeit eine Sackgasse

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Legende: Noch keine Spur von einer Autobahn: Beckenried auf einer Aufnahme aus den 1920er-Jahren. Bildarchiv ETH-Bibliothek Zürich

Trotz seiner zentralen Lage im Herzen der Schweiz war Nidwalden lange nur schwer zu erreichen. Erst 1860 wurde eine Brücke gebaut, die eine Landverbindung nach Luzern erlaubte – zuvor lief der Verkehr einzig über eine Seeverbindung.

Transportkosten waren hoch

Eine Sackgasse blieb Nidwalden aber weiterhin: Um in den Nachbarkanton Uri und in den Süden zu gelangen, mussten die Nidwaldnerinnen und Nidwaldner über Luzern oder mit dem Schiff reisen. Der Personen- und Warentransport von und nach Nidwalden war umständlich und teuer, der Urkanton blieb daher lange strukturschwach, das Volkseinkommen war im schweizerischen Vergleich tief.

Kanton investierte in Strassen

Ab den 1940er-Jahren lobbyierte der Kanton in Bern für einen Anschluss an die Gotthardstrasse. 1954 beschloss die Landsgemeinde den Ausbau des Strassennetzes – auch in der Hoffnung, dass eine künftige Autobahn durch Nidwalden führen würde.

Bald nach dem Zweiten Weltkrieg begann Nidwalden darum, in bessere Strassen zu investieren – im beginnenden Zeitalter des Autos verhiessen sie Fortschritt und Aufschwung. 1965 beschloss der Bund eine Verbindung durch den Gotthard, und bald war klar: Die Autobahn würde über Beckenried führen, dem Vierwaldstättersee entlang, bis sie in einem Tunnel durch den Seelisberg verschwindet.

In die Begeisterung mischten sich kritische Stimmen, die vor Verkehrslärm und der Verschandelung der Landschaft warnten. Beat Wymann, damals im Gemeinderat, versuchte das Viadukt abzuwenden. «Am liebsten wäre uns gewesen, die Autobahn wäre in einem Tunnel verlaufen», sagt er heute. «Aber die Geologie war leider sehr deutlich. Es gab praktisch keine andere Möglichkeit als eine Brücke.»

Beat Wymann, ehemaliger Gemeinderat von Beckenried.
Legende: Beat Wymann, 76, war während des Baus des Lehnenviadukts im Gemeinderat von Beckenried. «Am liebsten wäre uns ein Tunnel gewesen», sagt er heute. SRF

Denn der Hang ob Beckenried verschiebt sich jedes Jahr um mehrere Zentimeter. Auch der Bau eines Viadukts war da eine Herausforderung: Als 1976 die Bauarbeiten begannen, mussten die 58 Brückenpfeiler aus Stahlbeton in bis zu 70 Meter tiefen Schächten verankert werden. Die Baukosten liefen aus dem Ruder – statt 65 Millionen Franken kostete das Viadukt 122 Millionen.

1980 wurde der Seelisbergtunnel eröffnet, von da an rollte der Verkehr über das Lehnenviadukt von Beckenried. Wer oberhalb der Brücke lebt, ist seither von Lärm geplagt. Und unten im Dorf hört man genau, wenn morgens um fünf die ersten Lastwagen über die Brücke donnern.

Autobahn ist Fluch und Segen zugleich

Doch man müsse auch die positiven Seiten sehen, sagt Gemeindepräsident Bruno Käslin: «Unsere Gemeinde ist durch die Autobahn gut erreichbar geworden, davon profitiert das Dorf, das in vielerlei Hinsicht floriert.»

Beckenrieds Gemeindepräsident Bruno Käslin
Legende: Die Autobahn übers Dorf sei Fluch und Segen zugleich, sagt Beckenrieds Gemeindepräsident Bruno Käslin. Insgesamt aber profitiere die Gemeinde davon. SRF

Gut 3700 Menschen leben heute in Beckenried, fast doppelt so viele wie vor dem Bau der Autobahn. Im Kanton Nidwalden ist die Bevölkerung um 60 Prozent gestiegen, so stark wie sonst nirgends in der Schweiz. Und viele der Neuzuzüger sind finanzstark.

Der Aufschwung ist damit definitiv angekommen im ehemaligen «Sackgassen-Kanton». Die Autobahn hat dazu wesentlich beigetragen – auch wenn Beckenried sich nie so recht mit ihr abgefunden hat.

Regionaljournal Zentralschweiz, 16.07.2022, 17:30 Uhr ; 

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