Traditionen sind häufig anders entstanden als man denkt. Dies gilt zum Beispiel auch für die Schweizer Volksmusik – den Ländler. Er gehört eigentlich noch keine hundert Jahre zur Schweizer Tradition. In vielen Städten, in der Romandie oder auch im Tessin war diese Art Musik vorher kaum bekannt.
Der grosse Aufschwung zur nationalen Musik begann unter anderem in Zürich. Dort, wo man den Ländler heute kaum mehr vermutet: im Altstadtquartier Niederdorf. Hintergrund ist die Landflucht, die mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert zusammenhing. Die Leute vom Land strömten in die Fabriken in den Städten. «Und diese Arbeiter brachten dann halt ihre Musik mit», weiss Madlaina Janett. Sie hat sich mit der Geschichte der Volksmusik beschäftigt und ist Co-Autorin des Buchs «Ländlerstadt Züri».
Abwechslung zu Charleston und Swing
Richtig los ging es in Zürich mit dem Ländler nach dem Ersten Weltkrieg, so Janett. Zuvor war das Zürcher Ausgangsleben von ausländischen Formationen und den aufkommenden Charleston und Swing geprägt. «Wahrscheinlich lechzten die Leute damals nach Abwechslung», erklärt sich Madlaina Janett den Erfolg der Ländlermusiker in Zürich.
Es waren keine bieder-gemütlichen «Stubeten», die im Niederdorf zum Besten gegeben wurden. Im Gegenteil, es ging durchaus feuchtfröhlich zu und her. Auch aufseiten der Musiker: Grundsätzlich sei die Szene «kein Kind von Traurigkeit» gewesen, sagt Madlaine Janett: «Abstürze gehörten bei fast allen dazu.»
Dazu passt auch die Geschichte vom «Stocker Sepp», einer der grossen Ländler-Stars jener Zeit: «Man sagt von ihm, dass er im Suff eine Treppe hinunterstürzte und daran starb.» Das war allerdings im Jahr 1949, als die Zürcher Ländlerwelle bereits wieder abebbte.
Die Volksmusik machte in den Zwischenkriegsjahren eine erstaunliche Entwicklung durch – insbesondere auch in ideologischer Hinsicht. «Am Anfang war sie nur eine exotische, urchige Abwechslung. Im Laufe der Jahre hat sie sich aber zu einer Art nationalem Heiligtum entwickelt. Und man fand wirklich, es sei die Pflicht als Einwohner der Schweiz, Ländlermusik zu hören», beschreibt Janett den stetig steigenden Stellenwert der Volksmusik.
Der Weg zur Musik der Nation
Ihren Höhepunkt fand diese Entwicklung während der Schweizerischen Landesausstellung von 1939 in Zürich, die ganz im Zeichen der geistigen Landesverteidigung stand. «Im Landi-Dorf gab es eigentlich nur Ländlermusik zu hören.» Dies war der Wendepunkt. Noch nie zuvor waren so viele Leute in Kontakt mit Ländler gekommen. «Spätestens da war allen klar: Das ist unsere nationale Musik.»
Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es allerdings auch wieder schnell bergab mit dem Ländler in der Grossstadt. «Das Publikum wollte auch mal wieder anderes hören und hatte wieder Zugang beispielsweise zu amerikanischer Musik», sagt Madlaina Janett und bilanziert: «Spätestens im Jahr 1950 kann man die grosse Ländler-Blüte als beendet erklären.»