Als die Historikerin Fabienne Amlinger die Archive der Frauenorganisationen der SP, der CVP sowie der FDP untersuchte, stellte sie grosse Unterschiede fest: Die SP verfügte bereits seit 1912 über eine sozialdemokratische Frauenorganisation, die FDP folgte 1949. Und die CVP nahm die Frauen erst nach 1971 in ihre Reihen auf. Die SVP konnte Amlinger im Rahmen ihrer Doktorarbeit nicht untersuchen, da deren Archiv nicht öffentlich zugänglich ist.
Das Selbstverständnis der SP und ihre Stellung als linke Opposition hätten die Partei dazu geführt, Frauen früh zu integrieren, so Amlinger. Der Weg der Sozialdemokratinnen an die Macht war dennoch steinig. Die Genossen verwehrten ihnen häufig den Einsitz in Parteigremien, aussichtsreiche Listenplätze und die Stimme in den parteieigenen Presseorganen. «Im Parteiprogramm waren die Männer vielleicht für das Frauenstimmrecht. Wenn es aber um die machtvollen Positionen ging, wollte man nicht mit den Frauen teilen.»
Mit den 68ern kam die neue Frauenbewegung, die kämpferischer und radikaler auftrat. Diese Feministinnen wurden teilweise in die SP integriert. Sie beeinflussten die SP-Frauen und führten dazu, dass sie sich parteiintern ihren Platz erkämpften.
Die FDP hat immer ohne Frauen funktioniert
Bei den bürgerlichen Parteien sah das anders aus. Etwa bei der FDP, ein Jahrhundert lang die staatstragende Partei: «Die FDP hat immer ohne Frauen funktioniert. Sie hatte das Bild von der Ehefrau zu Hause. Wenn die Frau politisch aktiv sein wollte, dann sollte sie sich nur in ihnen zugeschriebenen Bereichen wie Familien- oder Sozialpolitik beteiligen.»
Das liberale Gedankengut – Chancengleichheit und individuelle Freiheit – trug dennoch dazu bei, dass die FDP 20 Jahre vor der CVP Frauen begrüsste. Die katholisch-konservative CVP tat dies erst dann, als die Frauen das Stimmrecht errangen.
Traten bürgerliche Frauen kämpferischer auf, wurden sie sofort in die linke Ecke gesetzt.
Die bürgerlichen Frauen verfolgten eine Strategie der kleinen Schritte und kamen nur langsam vorwärts. Ihre Parteikollegen wussten, wie sie sie zum Schweigen bringen konnten, so Amlinger: «Traten bürgerliche Frauen kämpferischer auf, wurden sie sofort in die linke Ecke gesetzt. Das war ein Totschlägerargument.»
1993 kam es zu einem entscheidenden Ereignis. Das Parlament weigerte sich, SP-Nationalrätin Christiane Brunner zur Bundesrätin zu küren. Diese Nichtwahl rüttelte viele Frauen und Männer auf und wurde als zutiefst ungerecht empfunden. «Da haben sich zum ersten Mal auch bürgerliche Frauen gewagt, Kritik an ihrer eigenen Partei zu üben.»
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Bild 1 von 5. «Frauen ins Parlament», fordern die Kandidatinnen der Genfer Frauenliste 1991 für die bevorstehenden Parlamentswahlen vom 19. und 20. Oktober 1991. Rechts: Christiane Brunner, spätere Bundesratskandidatin. Bildquelle: Keystone.
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Bild 2 von 5. 1993 steht die Genfer Gewerkschafterin Brunner als einzige Bundesratskandidatin für die Ersatzwahl René Felbers auf dem Ticket der SP. Bildquelle: Keystone.
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Bild 3 von 5. Sie würde das reine Männergremium wieder aufbrechen. Gewählt wird aber der inoffizielle Kandidat Francis Matthey. Das führt zu Protesten und Strassendemonstrationen. Bildquelle: Keystone.
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Bild 4 von 5. Daraufhin lehnt Matthey das Bundesratsamt nach einer Bedenkfrist ab. Die SP präsentiert ein Zweierticket, bestehend aus Ruth Dreifuss und Christiane Brunner. Bildquelle: Keystone.
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Bild 5 von 5. Christiane Brunner erklärt nach dem zweiten Wahlgang den Rückzug der Kandidatur. Ruth Dreifuss wird Bundesrätin und bleibt es bis 2002. Bildquelle: Keystone.
Frauen traten aus bürgerlichen Parteien aus, die SP hingegen verzeichnete weibliche Neumitglieder. Bei den anschliessenden Parlamentswahlen wurden so viele Frauen gewählt wie noch nie. Seither sind die Frauen zahlreicher geworden an den Hebeln der politischen Macht. Es habe aber noch immer zu wenige: «Der Anteil von Frauen und Männern in praktisch allen Gremien ist nicht gleichberechtigt. Und das ist auf das Agieren oder Nichtagieren der Parteien zurückzuführen», sagt Amlinger.
Mit langfristiger Förderung, guten Listenplätzen und Wahlkampffinanzierung könnten Parteien Frauen zu mehr Wahlchancen verhelfen. Das sei in diesem Wahljahr nötig, sagt die Historikerin, denn im Ständerat treten alle Frauen ausser eine zurück. Das Stöckli droht damit auf Werte zu fallen wie zuletzt in den 70er-Jahren, nachdem die Frauen das Stimmrecht erlangten.