Nein, mit so grossen Veränderungen hat in der Redaktion niemand gerechnet. Im Vorfeld haben wir sogar gewisse Umfrage-Ergebnisse angezweifelt, welche ziemlich grosse Verschiebungen voraussagten. Nun haben die Verluste von SVP und die Gewinne der Parteien mit dem «Grün» im Namen (Grüne, GLP) die Umfragen sogar noch übertroffen.
Die SVP ist im Aargau eine etablierte Partei, seit Jahren. Nun verliert sie so viele Stimmen, dass sie auf ihre Stärke von vor 20 Jahren zurückfällt. Und sie verliert stärker als im Rest der Schweiz.
Grüne und Grünliberale hingegen können ihre Wähleranteile fast verdoppeln. Klar: Sitze haben die beiden Parteien keine gewonnen, sie gingen an die Listenpartner SP und CVP. Aber der Zuwachs an Wählerstimmen lässt sie trotzdem als die echten Sieger des Tages dastehen.
Die SVP hat an Glanz verloren
Der Aargau ist grüner geworden, die politische Mitte wurde gestärkt. Ein «Linksrutsch» ist das nicht, aber eine sehr markante Veränderung. Zudem ist die Delegation im Nationalrat weiblicher geworden. Was ist passiert?
Die grösste Verantwortung für dieses Resultat trägt die Verliererin des Tages selbst. Die SVP hat in den letzten Monaten im Aargau eine wirklich schlechte Falle gemacht. Natürlich: Sie hat viele bekannte Gesichter verloren mit Nationalräten, die nicht mehr antraten oder für andere Listen: Ueli Giezendanner, Luzi Stamm, Maximilian Reimann, Silvia Flückiger. Und ihr Hauptthema Migration spielte in diesem Wahlkampf kaum eine Rolle. Doch das reicht nicht als Erklärung.
Mehr Mobilisierung in urbanen Regionen
Die Kantonalpartei hat im Fall der gescheiterten Regierungsrätin Franziska Roth versagt. Zuerst wurde diese gegen den Widerstand aller anderen Parteien durchgesetzt, anschliessend wurde sie fallengelassen. Auch Nationalrat Andreas Glarner sorgte für negative Schlagzeilen, zum Beispiel mit persönlichen Angriffen in sozialen Medien.
Offenbar haben einige SVP-Wählende darob keine grosse Lust mehr verspürt, für ihre Partei an die Urne zu gehen. Es fällt auf: Die Stimmbeteiligung in eher ländlichen Bezirken wie Kulm, Muri oder Zurzach ist relativ tief. Sie war dort schon immer tiefer, die Differenz zu eher urbaneren Bezirken wie Aarau und Baden fällt aber noch grösser aus als 2015.
Offenbar haben linke und grüne Wählerinnen und Wähler in den urbaneren Regionen ihre Stimmen abgegeben, traditionell bürgerlich Wählende auf dem Land aber nicht. Das erstaunt im bisher klar bürgerlich dominierten Kanton Aargau. Gerade in diesem Kanton hätte man einen bürgerlichen «Gegendruck» zur «Klimawelle» erwarten können.
Der Aargau scheint an diesem Tag zu einem urbaneren Kanton geworden zu sein. Allerdings: Vielleicht ändert das wieder. Vor vier Jahren gab es schliesslich einen spürbaren Rutsch nach rechts. Und bei den Regierungs- und Ständeratswahlen stehen bürgerliche Kandidierende in der Poleposition.