Rund 10 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in der Schweiz sind nicht in der Lage, einfache Texte zu lesen, geschweige denn selber zu schreiben.
Dieser Feststellung folgt dann meist ein Unkenruf der Bildungspessimisten: «Dieser blöde Computer ist schuld!», oder formaler: Die fortschreitende Digitalisierung unserer Gesellschaft führt zum Verlust von Schreib- und Lesekompetenzen. Die Vorurteile im Detail:
- Weil wir nur noch in unsere Handys starren, reden wir nicht mehr miteinander und beherrschen das Gespräch auch immer weniger.
- Weil wir statt Briefe SMS schreiben, verludert unsere Sprache, wird ungenau und immer untauglicher, um komplexe Sachverhalte zu vermitteln.
- Weil wir nur noch häppchenweise Texte lesen, stehen wir mit schwierigeren Texten schnell auf Kriegsfuss.
- Das alles gilt vor allem für die Jugend.
«Heikle Thesen» nennt das der Schweizer Linguist Martin Luginbühl. Der Forscher und Professor an der Universität Basel plädiert für differenziertere Aussagen. Der Mensch von heute müsse wesentlich mehr verschiedene Textformen beherrschen, als der Mensch in vor-digitaler Zeit. Dabei hat der Computer nach Ansicht Luginbühls eher einen umgekehrten Einfluss.
«Um ein Handy bedienen, um ein Computerprogramm einrichten zu können, muss man zwingend lesen können und zwar auch komplexe Texte», sagt Luginbühl und entkräftet damit das Argument, gerade junge Leute würden mit kommunikativen Unzulänglichkeiten kämpfen.
Eine Einschätzung, die sich auch in einer Forschungsarbeit der Linguistik-Professorin Christa Dürscheid von der Universität Zürich zeigt.
Junge sind besser als ihr Ruf
Dürscheid untersuchte, ob sich die neue, digitale Schriftlichkeit negativ auf Schreib- und Lesekompetenzen auswirkt. Dem ist eher nicht so. «Es bestehen vielmehr zwei Schreibwelten», erklärt Dürscheid. «In der einen hat Rechtschreibung einen anderen Stellenwert als in der anderen.» Dem stimmt auch Luginbühl zu.
«Gerade junge Menschen differenzieren sehr deutlich», sagt der Forscher. Sie wüssten genau, dass ein Text für den Lehrmeister völlig anders ausschauen muss, als die WhatsApp-Nachricht an die Freundin. Und auch die Befürchtung, wonach junge Menschen heute weniger miteinander kommunizieren, weiss Luginbühl rasch zu zerstreuen.
«Die Digitalisierung hat zu einer massiven Zunahme der Kommunikation geführt», erklärt der Linguist. Und zwar nicht nur im digitalen, sondern auch im ganz realen Kontext. Viele SMS würden zu einer Folgekommunikation in physischer Anwesenheit führen. «Alles in allem pflegt die Jugend einen intensiven und sehr kreativen Umgang mit Sprache und Schriftlichkeit.»
Die Klagen der Konservativen
Woher also kommt denn dieser Pessimismus? Und vor allem: Woher kommt die über die Jahre mehr oder weniger konstante Zahl an Illettristen? Für Dürscheid wie für Luginbühl ist klar: Das hat weniger mit der Digitalisierung zu tun als mit individuellen Gründen.
«Es dürften eher biographische und schulische Kriterien sein, die auf Schreib- und Lesekompetenzen wirken», sagt Luginbühl. Für ihn verdankt sich diese pessimistische Argumentation einem kulturellen Phänomen. «Immer, wenn neue Medien ins Spiel kamen, haben konservative Kräfte den Niedergang bestehender Kompetenzen vorausgesagt», sagt Luginbühl. Das liess sich beim Aufkommen von Romanen im 15. und 16 Jahrhundert genauso beobachten wie später bei der Erfindung des Fernsehens.
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Üben, üben, üben...
Überhaupt müsse man unterscheiden, führt Dürscheid an. Zwischen jenen Menschen, denen grundlegende Kompetenzen in der Alphabetschrift fehlen, die also nicht wissen, wie man liest und schreibt, und solchen, die an der Komplexität scheitern würden. Für Dürscheid wie Luginbühl ist aber klar, wo man ansetzen muss, um den Illettrismus einzudämmen.
Das Umfeld von Illettristen müsse sensibilisiert werden, sagt Dürscheid. «Diese Menschen müssen verstehen, dass es keine Schande ist, wenn man mit dem Schriftsystem nicht klar kommt.» Und damit man auch komplexere Texte verstehen und selber schreiben kann, empfiehlt der Linguist Luginbühl, die Schreib- und Lesekompetenz nicht nur während der ersten paar Schuljahre zu üben, sondern eigentlich lebenslang.