SRF News: Nach harscher Globalisierungskritik vornehmlich aus der Dritten Welt setzt auch die neue amerikanische Regierung auf Abschottung und schwört also scheinbar einem unbeschränkten Weltmarkt ab. Ist die Globalisierung an ihr Ende gelangt?
Thomas Bieger: Die Globalisierung hat auf der Makroebene zu einem grossen Wohlstandswachstum geführt, dabei aber eben auch den Strukturwandel verstärkt. Die Entwicklungen in den vergangenen Jahren zeigen, dass einzelne Regionen und Branchen relativ verloren haben. Das sind nicht mehr nur Länder der Dritten Welt, sondern auch Bevölkerungsgruppen wie die alte Mittelklasse in einzelnen Regionen der Industrieländer. Diesen Strukturwandel hat man in seinen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Folgen zu wenig beachtet und abgefedert.
Die Share-Economy bemisst den Wert von Waren scheinbar nicht mehr an deren Verkäuflichkeit, sondern an deren gemeinsamer Nutzbarkeit. Hat der Kapitalismus ausgedient?
Kapitalismus ist die Wirtschaftsform, bei der Produktionsfaktoren privates Eigentum sind. Heute beobachten wir eine Verschiebung der Bedeutung von einzelnen Produktionsfaktoren. Daten, Kompetenzen und besondere Fähigkeiten werden immer wichtiger. Dies hat zwei Folgen: Dank Technologie können Daten, besondere Fähigkeiten und Kompetenzen viel schneller verarbeitet und damit noch besser genutzt werden. Gleichzeitig verschiebt sich auch die Rendite von Produktionsfaktoren.
Physische Ressourcen wie Rohstoffe, Fabriken oder Lagerhäuser können durch Technologie und Prozessoptimierung besser genutzt werden. Die grosse Rendite liegt heute deshalb bei den oben erwähnten Produktionsfaktoren wie Daten und Kompetenzen, auch Plattformen oder spezieller Software, die dann durch geistige Eigentumsrechte geschützt werden. Die neuen Kapitalisten besitzen nicht mehr Kapital und Fabriken, sondern Plattformen, Daten und Softwaresysteme und versuchen damit, Wertschöpfungssysteme mit klaren wirtschaftlichen Interessen zu beherrschen. Der Kapitalismus ist also mitnichten tot, sondern geht einfach mit einer strukturellen Verschiebung einher.
Amerika kann immer noch als politische Leitkultur des Westens gelten.
Das sich zusehends konservativ gerierende Amerika ist offenbar auch nicht mehr das, was es einmal war – ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten...
Über die künftigen Entwicklungen in Amerika will ich nicht spekulieren. Diese kann man erst ermessen, wenn Donald Trump und sein Team im Amt sind und sie einige Zeit ihre Arbeit machen. Ich persönlich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass die USA, die so sehr von einem offenen Welthandel und von einem offenen Austausch von Wissen profitieren, diese allzu stark einschränken werden.
Aufgrund seiner Wirtschaftsmacht und seiner Verflechtung, der Grösse seiner Wirtschaft und nicht zuletzt seines auf lange Zeit überlegenen militärischen Potentials ist Amerika immer noch eine zentrale Kraft, und es kann immer noch als politische Leitkultur des Westens gelten.
Auch die europäische Integration erscheint im Rückblick als Himmelfahrtskommando. Der Euro schwächelt fort, das wirtschaftliche Schwergewicht Grossbritannien ist ausgestiegen, und von geteiltem Ideengut, kann keine Rede (mehr) sein...
Europa steht für viele für uns wichtige Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Respekt vor dem Individuum und ist dank seiner auf diesem engen Raum einmalig diversen Kultur ein Kreativitätspol der Welt. Die europäischen Institutionen sind jedoch auf verschiedenen Ebenen in Zielkonflikte gefangen. Europa hat eine Chance, wenn es zu institutionellen Reformen fähig ist.
Eine Perspektive könnte eine Union der zwei (Integrations-)Geschwindigkeiten sein. Vor allem brauchen Europa respektive seine Integrationsschritte wieder eine demokratischere Fundierung. Die Entwicklungsschritte der Union müssen von der Bevölkerung mitgetragen werden und auch Referenden bestehen.
Die Entwicklungsschritte der Europäischen Union müssen von der Bevölkerung mitgetragen werden.
Böse Zungen behaupten, die Welt liege in Scherben, und die WEF-Teilnehmer treffen sich wie jedes Jahr, um zu plaudern und Cüpli zu trinken. Ein falscher Eindruck?
Das WEF ist ein einmaliges Forum. Wo, wenn nicht in Davos, lassen sich wirtschaftliche Probleme in einem gesellschaftlichen, rechtlichen und schliesslich auch politischen Rahmen erfassen? Dieser Horizont, den Manager, Politiker, Wissenschaftler und Journalisten gemeinsam aufspannen, ist genau das, was mich als Rektor der Universität St.Gallen am Anlass reizt. Denn auch die HSG ist als Wirtschaftsuniversität dem Ansatz einer integrativen Denkweise verpflichtet - dem Verstehen, wie beispielsweise technologische Veränderungen auf die Gesellschaft, dann auf die Politik und das Recht und schliesslich auf die Wirtschaft wirken. Entsprechend intensiv sind die Tage jeweils.
Das Gespräch führte Christine Spiess