Jocelyne Gunzinger lebt im Kanton Genf und ist voll berufstätig. Ihren behinderten Bruder Claude kann sie nur an Wochenenden in seinem Heim im jurassischen Porrentruy besuchen. Sie ist für ihren Bruder, der mit einem Hirnschaden zur Welt kam, die wichtigste Bezugsperson – ihre Eltern leben nicht mehr. Dennoch darf Claude nicht in die Nähe seiner Schwester ziehen.
Jocelyne Gunzinger hat fünf Heime in Genf mit ihrem Bruder besucht. Alle hätten ihn gerne aufgenommen. «Ich möchte Claude auch unter der Woche besuchen können. Dass er nicht in meine Nähe ziehen darf, zerreisst mir das Herz», sagt sie gegenüber «10vor10».
Der Kanton Jura verhinderte einen Umzug – mit Unterstützung des Bundesgerichts. Dieses hielt letzten September fest: «Es wäre unverhältnismässig, den Wunsch des Betroffenen näher bei seiner Schwester zu wohnen, über das finanzielle Interesse des Kantons Jura zu stellen.»
Bundesgericht gewichtet finanzielle Interessen höher
Das Heim im Jura kostet pro Jahr 99'531 Franken, jenes in Genf 201'480 Franken– die rund 100'000 Franken Mehrkosten hätte der Wohnkanton Jura übernehmen müssen. Der Kanton Jura erhielt vor dem Bundesgericht Recht – mit der Konsequenz, dass der 62-jährige Claude Gunzinger sein Leben lang nicht in die Nähe seiner Schwester ziehen darf.
Die Chefin des Sozialamtes des Kantons Jura, Muriel Christe Marchand, sagt: «Eine Evaluation hat gezeigt: Das bestehende Heim im Kanton Jura deckt die Bedürfnisse des Betroffenen ab. Die Kosten waren ein Element, aber in diesem Fall total zweitrangig.»
Nationalrätin fordert Lösung für Betroffene
Die Solothurner SP-Nationalrätin Franziska Roth findet dies unhaltbar und fordert in einer Motion an den Bundesrat, dass Betroffene künftig Beschwerde beim UNO-Behindertenrechts-Ausschuss einreichen können. Roth betont zudem: «Die Sozialdirektoren müssen schauen, dass die Kosten nicht mehr erstrangig sind und diese Menschen dorthin ziehen dürfen, wo ihre Familie ist.»
Die Sozialdirektoren-Konferenz der Kantone (SODK) hingegen hält Claude Gunzinger für einen «Einzelfall». Generalsekretärin Gaby Szöllösy: «Für uns ist wichtig, dass Personen über die Kantonsgrenzen hinaus Zugang haben zu einem optimalen Angebot. Dieses System funktioniert. Die mehreren tausend Fälle, die ausserkantonal untergebracht sind, beweisen das und auch die wenigen Schlichtungsfälle, die wir haben.»
Konkrete Zahlen, wie viele der «mehreren tausend Fälle» von einem billigeren in einen teureren Heimkanton umziehen, konnte die Sozialdirektoren-Konferenz nicht vorweisen. Tatsache ist: Kein Kanton wird im umgekehrten Fall Einspruch erheben, wenn ein Mensch mit Behinderung die Kasse entlastet und von einem teureren Kanton an einen Ort mit tieferen Heimkosten umzieht.