Leere Strassen, minutenlang kein einziges Auto. Ist die Apokalypse ausgebrochen? Während des Shutdowns im Frühling 2020 glichen die Schweizer Strassen teils einem Filmset für ein Weltuntergangdrama. Diese Szenen sind längst vorbei – und doch hat Corona noch immer einen deutlichen Einfluss auf die Verkehrsflüsse auf Schweizer Strassen.
Am Beispiel des Kantons Bern zeigt sich, dass es seit Corona weniger Engpässe im Berufsverkehr gibt. «Die Verkehrsspitzen im Morgen- und Abendverkehr sind abgeflacht», sagt Mark Siegenthaler vom Bundesamt für Strassen Astra.
Verkehrsspitzen im Morgen- und Abendverkehr sind abgeflacht.
Er hat die Verkehrsdaten vier stark befahrener Autobahnen im Kanton Bern ausgewertet. Seit der Corona-Pandemie verteile sich der Strassenverkehr zur Stosszeit besser über eine längere Zeit. Und das ist nicht nur auf Autobahnen so, diesen Effekt hat man in Bern auch auf den Kantonsstrassen registriert, heisst es auf Anfrage beim kantonalen Tiefbauamt.
Trotz Homeoffice nicht weniger Fahrzeuge
Offenbar sind die Arbeitszeiten seit Corona flexibler, oder viele beginnen im Homeoffice und gehen erst nach der eigentlichen Stosszeit ins Büro. Unter dem Strich seien aber nicht weniger Autos unterwegs als vor der Pandemie. Man habe lediglich einen Rückgang von etwa zwei Prozent registriert, sagt Siegenthaler: «Wenn man schaut, wie viele Leute noch im Homeoffice sind, können wir davon ausgehen, dass viele an ihrem freien Tag eine Freizeitfahrt mit dem Auto machen.»
Seit der Corona-Pandemie komme es auf den Routen im Berner Oberland regelmässig zu überfüllten Strassen durch Tagesausflügler. «Und das betrifft nicht mehr nur das Wochenende», so Mark Siegenthaler.
Das liegt wohl einerseits daran, dass während den Ferien viele in der Schweiz bleiben und hier Tagesausflüge machen. Ein weiterer Grund dürfte sein, dass sich der Freizeitverkehr von den Schienen auf die Strassen verlegt. Denn die ÖV-Anbieter verzeichnen noch immer deutlich tiefere Passagierzahlen.
Verkehrsplanung wird schwieriger
Früher sei die Errechnung der Verkehrsströme einigermassen simpel gewesen, sagt Mark Siegenthaler. Bevölkerungszunahme und Konjunktur hätten jedes Jahr rund ein Prozent mehr Verkehr auf den Strassen gebracht. Diese Berechnung funktioniere momentan nicht mehr: «Die Karten sind neu gemischt. Niemand weiss, wie sich das mit dem Homeoffice genau weiterentwickelt und wann die Leute wieder im früheren Rahmen den ÖV benützen.»
Auf die bereits geplanten Verkehrsprojekte im Kanton Bern, welche jeweils nicht nur auf die nächsten Jahre, sondern Jahrzehnte ausgerichtet sind, hat die aktuelle Entwicklung noch keinen Einfluss, sagt Stefan Studer, Leiter des Tiefbauamts Kanton Bern: «Wir gehen nach wie vor von einem Bevölkerungswachstum und einer steigenden Konjunktur aus.» Daher werde es längerfristig mehr Verkehr geben. Ob die aktuelle Entwicklung den Verkehrsfluss nachhaltig verändere, müsse sich erst noch zeigen, so Studer.
Einzelne Ausbauprojekte könnten verzögert werden
Auch der Verkehrsexperte Kay Axhausen sagt, der langfristige Corona-Effekt auf den Strassenverkehr sei noch nicht absehbar. Er leitet das ETH-Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme. Laut ihm könnte es bei Projekten, welche die Strassen zu den Stosszeiten entlasten sollen, zu Verzögerungen kommen. «Man muss dann schauen, inwieweit die Covid-Entwicklung ausreichend ist, um bestimmte Projekte zu verzögern.» Und Ausbauprojekte, die vorher auf der Kippe standen, könnten untern Umständen ganz gestrichen werden, so Axhausen.