Am Anfang schien es eindeutig: Covid-19 ist eine Lungenerkrankung. Inzwischen hat sich gezeigt, dass Covid-19 viel komplexer ist. Charles Béguelin, Infektiologe am Spitalzentrum Biel, beschreibt, was zurzeit viele Kliniken sehen: «Es gibt Leute mit Brustschmerzen, allenfalls mit Beteiligung des Herzmuskels. Zum Teil treten Nierenschäden und Leberentzündungen auf.»
Herz, Niere, Leber: Dass bei Covid-19 auch andere Organe in Mitleidenschaft gezogen werden, haben die Infektiologen so nicht erwartet, denn Coronaviren greifen normalerweise vor allem die Atemwege an. Die Lunge ist zwar auch bei Covid-19 sozusagen der Hauptschauplatz, aber nicht nur. Häufig treten zum Beispiel Thrombosen auf, etwa Lungenembolien.
Ursachen sind weiterhin unklar
Auch lebensgefährliche Durchblutungsstörungen im Darm kommen vor. Manche Covid-Patienten erleiden Schlaganfälle oder ziehen sich eine Hirnentzündung zu. Häufig verlieren Patienten auch den Geschmacks- und Geruchssinn.
Die genauen Ursachen dieser Symptome und Krankheitsverläufe sind rätselhaft. 1000 Studien sind über das neue Coronavirus bereits erschienen, doch wie das Virus den Körper schädigt, zeichnet sich erst spurenweise ab.
These: Entzündung im ganzen Körper
Eine interessante Spur verfolgen Mediziner des Universitätsspitals Zürich. Ihre These: Covid-19 ist eine Entzündung im ganzen Körper. Chef-Kardiologe Frank Ruschitzka sagt: «Es ist nicht nur eine Lungenerkrankung, sondern eine Erkrankung aller Gefässe und aller Organe. Das erklärt genau das klinische Bild, wie wir es auf den Intensivstationen sehen.»
Es ist eine Erkrankung aller Gefässe und aller Organe.
Dass Covid-19 alle Gefässe des Körpers befallen kann und dort Entzündungen auslöst, haben die Zürcher Mediziner bei der Autopsie von verstorbenen Patienten festgestellt.
Virus dringt in Herz-Kreislauf-System ein
Die These der Forscher: SARS-CoV-2 dringt über ein bestimmtes Enzym, den ACE2-Rezeptor, in die sogenannten Endothelzellen des Herz-Kreislauf-Systems ein. So erreicht das Virus sämtliche Organe des Körpers. Die Endothelzellen sind eine Art Schutzschild, die die Innenwand der Gefässe auskleidet. Sie regeln wichtige Prozesse wie zum Beispiel den Transport von Molekülen durch die Gefässwand.
SARS-CoV-2 sei deshalb so gefährlich, weil das Virus diese Vorgänge empfindlich störe, erklärt Ruschitzka: «Unser Endothel hält die Gefässe offen. Das Virus macht dieses Schutzschild kaputt, in allen Organen.»
Unser Endothel hält die Gefässe offen. Das Virus macht dieses Schutzschild kaputt, in allen Organen.
Gewisse Gruppen sind einschlägig vorgeschädigt
So könne man beispielsweise auch erklären, weshalb Herz- oder Diabetes-Patienten zu den Risikogruppen von Covid-19 zählen: Ihr Endothel ist bereits vorgeschädigt, so Ruschitzka. Und in der Phase, in der sich das Virus am stärksten vermehrt, leiden die vorgeschädigten Endothelzellen noch stärker.
Ob die Vermutung stimmt, werde sich zeigen, sagt Ruschitzka: «Egal, was da rauskommt in die eine oder andere Richtung – das ist jetzt noch nicht der Beweis.» Denn für Beweise brauche es solide wissenschaftliche Studien. Und die bräuchten Zeit.