In einem Interview mit der Sonntagszeitung bejahte die Basler Uni-Rektorin Andrea Schenker-Wicki die Aussage, Postkolonialismus sei «eine Ideologie», die die Welt in Täter und Opfer unterteile.
Studierende der Philosophisch-Historischen Fakultät widersprachen in einem Offenen Brief, was Schlagzeilen machte. Dabei wurde – im Umfeld von umstrittenen politischen Positionsbezügen von Universitätsexponenten in Basel und Bern – auch die Frage der Wissenschaftsfreiheit aufgeworfen.
SRF News: Was ist Postkolonialismus?
Georg Kreis: Postkolonialismus ist eine wissenschaftliche Disziplin, die untersucht, inwiefern die Machtverhältnisse der Kolonialzeit heute fortbestehen und nachwirken, zum Beispiel in der Sprache, der Werbung oder Kinderbüchern. Das kann man auf unterschiedliche Art tun: wenig überlegt im Alltag, politisch-polemisch, aber auch wissenschaftlich – und natürlich auch in der Schweiz.
Postkolonialismus in einem Land, das keine Kolonien hatte: Wie kam diese Theorie in die Schweiz?
Mit leichter Verspätung. Die Schweiz war sehr wohl am Kolonialismus beteiligt, zwar nicht als Staat, aber gesellschaftlich, wirtschaftlich und militärisch. Postkolonialismus wird etwa seit den 1990er-Jahren wissenschaftlich thematisiert und hat selbstverständlich auch die Schweiz erreicht. Auch hier ist er in der Fachwelt als Erweiterung des Fragespektrums anerkannt.
In einem Zeitungsinterview wurde der Vorwurf genannt, Postkolonialismus sei eine Ideologie. Ist das berechtigt?
Die Sonntagszeitung hat der Rektorin der Uni Basel diese Suggestivfrage gestellt, und dieser ist sie meines Erachtens erlegen. Grundsätzlich ist diese pauschale Kritik überhaupt nicht berechtigt.
Ideologie ist eine schematisierende Deutung der Welt, die nur das gelten lässt, was bestehende Grundüberzeugungen zulassen. Der Ideologie-Vorwurf entspringt oft Haltungen, die selber ideologisch geprägt sind.
Woher kommt die Kritik am Postkolonialismus als Theorie?
Das könnte in ein Links-rechts-Schema fallen: Der rechte Standpunkt ist ein traditioneller, der sich an Bestehendem orientiert und Innovation ablehnt – Postkolonialismus ist noch neu. Aber es ist auch eine Abwehr von Kritik am globalen Norden samt Europa, und da wird auf Kritik mit Gegenkritik reagiert.
Meine eigene Kritik wäre eine andere: Bei postkolonialen Studien vermisse ich wirtschaftliche Aspekte. Es geht primär um Mentalität und Ideen, zu wenig um die Verhältnisse vor Ort in ehemaligen Kolonien.
Wie frei sind denn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, individuell eine politische Meinung zu äussern?
Fragestellungen dürfen politisch sein, manche müssen es sogar sein. Etwas anderes ist dann die Abklärung einer Frage. Nicht vorgegebene Meinungen sollen die Resultate bestimmen, sondern man muss auch klären, ob eine Annahme doch nicht zutrifft.
Vielleicht sind die Sozialwissenschaften dieser Politikproblematik stärker ausgesetzt, weil sie sich völlig zu Recht mit Dingen beschäftigen, die nicht gut funktionieren.
Kann ein Ideologie-Vorwurf die Wissenschaftsfreiheit in Gefahr bringen?
Ja. Falls die Kritisierten oder deren Vorgesetzte das unkritisch übernehmen, dann wird auch die Forschungsfreiheit eingeschränkt durch vorherrschende Denkmuster. Hingegen kann ein Dialog zu einer Erweiterung des Horizonts führen. Der Brief der studentischen Fachgruppe an die Rektorin hat einen guten Impuls gegeben und verdient, auf gleichem Niveau beantwortet zu werden.
Das Gespräch führte Roger Lange.