Ernst Sieber war skeptisch, als die von ihm wenig geliebte Stiftung eine Biografie über ihn in Auftrag gab. Ein Buch über sein Leben? Das war nicht in seinem Sinn. Allein, der angefragte Autor bewies Fingerspitzengefühl: Um den Theologen nicht zu kompromittieren, schrieb Daniel J. Schüz keine Vita, sondern erfasste Porträts – von Menschen, die dem Pfarrer begegnet sind. Die Anthologie ist vor zehn Jahren veröffentlicht worden.
SRF News: Pfarrer Sieber ist an Pfingstsonntag gestorben. Was war Ihr erster Gedanke nach der Nachricht von seinem Tod?
Daniel J. Schüz: Typisch Ernst – ein perfekt getimter, humorvoll inszenierter Abgang von der Menschenbühne. Sein Leitsatz ‹A de Pfingschte gohts am ringschte› war nicht nur ein witziger Spruch. Das Pfingstfest bedeutete ihm theologisch mehr als Weihnachten oder Ostern. Wenn man ihn fragen könnte, würde er wohl sagen: ‹De Herrgott hätt mi gholt, wenn's am ringschte isch!›
Wie bleibt Ihnen Ernst Sieber als Theologe in Erinnerung?
Er war zweifellos ein grosser Theologe, aber hat sich selten als solcher zu erkennen gegeben. Die Nachfolge Christi war sein grosses Thema. Und entsprechend hat er nicht von der hohen Kanzel gepredigt, sondern sich in die Gosse begeben, wo die Not der Menschen am grössten war. Genau so, wie Jesus es vorgelebt hat.
Dass er als Politiker nicht die ganz grossen Stricke zerreissen konnte, lag nicht an ihm.
Wie sahen Sie ihn als Politiker?
Er ist auch als Politiker ein Prediger geblieben, der versucht hat, auch diese Bühne zu nutzen, um die Obdachlosigkeit zu bekämpfen – die ja im Grunde ein sehr politisches Thema ist. Dass er als Politiker nicht die ganz grossen Stricke zerreissen konnte, lag nicht an ihm, sondern viel mehr an der Schwerfälligkeit des Systems. Der Nationalratssaal mit den Krawattenträgern war ebensowenig seine Bühne wie die Kirchenkanzel. Ernst Sieber war ganz unten daheim, nicht irgendwo dort oben.
Wie war er für Sie als Mensch?
Das ist der zentrale Punkt: Ernst Sieber war durch und durch Mensch. Er ehrte die Menschenwürde, predigte Menschenrechte, verkörperte Menschlichkeit in so hohem Mass, dass mit den Qualitäten auch die entsprechenden Schwächen einhergingen.
Wem und wo wird er am meisten fehlen?
Sehr einfach: uns allen. Den Menschen am Rande der Gesellschaft, denen er Hilfe und Zuflucht schenkte, wie auch jenen mittendrin, für die er seine mahnende, polternde, eindringliche Stimme erhoben hat. Die Stimme hat niemanden kalt gelassen, der sie vernommen hat. Und das waren – nicht zuletzt auch dank dem Medium Fernsehen – alle, zumindest im deutschsprachigen Raum der Schweiz.
Es ist nun die Aufgabe der Stiftung, sein Werk in seinem Sinne weiterzuführen. Auch wenn er es wohl kaum hätte wahrhaben wollen: Im Wirken dieser Stiftung wird Ernst Sieber weiterleben. Und das wiederum ist ein Auftrag an alle, die ihn überleben.
Er ehrte die Menschenwürde, predigte Menschenrechte, verkörperte Menschlichkeit in so hohem Mass, dass mit den Qualitäten auch die entsprechenden Schwächen einhergingen.
Ist sein Nachlass gesichert? Finanziell und ideell?
Ich wäre ein Prophet, wenn ich diese Frage beantworten könnte. Aber ich bin nur ein Bewunderer. Und als solcher kann ich nur meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, dass Ernst Siebers Nachlass ideell und künstlerisch gesichert ist. Und natürlich auch finanziell.
Kann es wieder einen Pfarrer Sieber geben, also einen Menschen mit seinem Format?
Für mich hat Ernst Sieber das Format eines Dalai Lama. Und der wird ja auch immer wieder neu inkarniert.
Ernst Sieber wird im engsten Kreis beerdigt. Eine Gedenkfeier ist geplant. Wie würde er sich die Feier, wie grundsätzlich die Erinnerung an ihn wünschen?
Ich glaube, er würde es schätzen, wenn all jene Gelegenheit hätten, von ihm Abschied zu nehmen, die für ihn im Mittelpunkt standen: die am Rande und jenseits der Gesellschaft, die Traurigen, die Leidenden, die Kranken, auch die Gottlosen. Das sind all jene, die er jeweils an Weihnachten zum Gala-Diner ins Luxus-Hotel eingeladen hat.
Das Gespräch führte Christine Spiess.