- Seit Jahrzehnten betreibt der Kanton Graubünden eigene Schulen in den Asylzentren.
- Fachleute kritisieren dieses Bündner Modell. Der Grundsatz, das Wohl des Kindes in den Vordergrund zu stellen, werde «in untragbarer Weise verletzt».
- In einem Brief an die Regierung fordern sie, dass Kinder und Jugendliche spätestens nach einem Jahr die Volksschule besuchen.
Vor den Sommerferien dieses Jahres schlugen besorgte Eltern Alarm. Sie erzählten Radio SRF von ihren Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder (siehe «Passend zum Thema»)
Aufgrund der Berichterstattung melden sich nun mehrere Fachleute zu Wort. In einem Brief an die Bündner Regierung fordern sie Reformen. Initiantin des Briefs ist Bettina Looser von der Pädagogischen Hochschule Schaffhausen. Sie seien vier Fachleute, «die sich seit Jahren mit geflüchteten Kindern und deren Bildung befassen».
Der Kanton Graubünden muss die Praxis überdenken und wahrscheinlich auch ändern.
Im Brief an die Regierung – der Radio SRF vorliegt – kritisieren sie, dass die Kinder in Bündner Asylzentren länger als ein Jahr separat in speziellen Klassen unterrichtet werden. Ziel müsse sein, dass geflüchtete Kinder so gut wie möglich die Sprache lernen, sagt Looser. Doch «bei einem Verbleib in der Heimschule länger als ein Jahr ist das einfach nicht gegeben».
Wenn nur die Lehrerin richtig Deutsch kann
Laut den aktuellen Zahlen des Bündner Migrationsamts besuchen mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen die heiminterne Schule länger als zwei Jahre.
Wenn im Schulzimmer die Lehrerin die einzige Person sei, die gut Deutsch könne, dann würden die Kinder langsamer lernen, sagt auch Mitunterzeichner Andrea Lanfranchi. Der Puschlaver ist Professor an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich und Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Migration. «Der Kanton Graubünden muss die Praxis überdenken und wahrscheinlich auch ändern», sagt Lanfranchi.
Kritik am Schulkonzept
Kinder bräuchten einen normalen Alltag mit Schulweg und einem Pausenplatz zum spielen, das alles fehle während Jahren. Der Heilpädagogikprofessor kritisiert auch, dass laut Schulkonzept die Lehrperson normalerweise zwei Stunden pro Monat von einer Heilpädagogin unterstützt wird. Das sei viel zuwenig, «vor allem bei Kindern, deren Familien geflüchtet sind». Statt zwei Stunden pro Monat müssten es zwei Stunden pro Tag sein, sagt Andrea Lanfranchi.
Unterschrieben hat den Brief auch die Ärztin Fana Asefaw sowie der Bildungsexperte Markus Truniger. Die NZZ hatte ihn 2017 bei seiner Pensionierung als «Pionier für Deutschförderung» im Kanton Zürich bezeichnet. Der frühere Mitarbeiter der Zürcher Bildungsdirektion bemängelt das Bündner Modell. Die Interessen der Kinder seien zweitrangig, der Reformbedarf gross.
Zürcher Modell als Vorbild?
Truniger sagt, er habe den Brief auch unterschrieben, «weil ich dank meiner jahrelangen Berufserfahrung im Kanton Zürich weiss, dass es auch anders geht». Im Kanton Zürich würden die Kinder ein Jahr lang intensiv Deutsch in einer Vorbereitungsklasse lernen und dann die normale Volksschule besuchen. Der Bildungsexperte sagt aber auch, das funktioniere nur, wenn die Schulen die nötigen Ressourcen dafür hätten.
Wir glauben, dass wir mit diesem Regime bisher nicht schlecht gefahren sind.
Die Forderung der Fachleute ist bei der Bündner Regierung angekommen. «Wir haben den Brief zur Kenntnis genommen», sagt der zuständige Regierungsrat Peter Peyer. «Wir haben derzeit ein anderes Regime in Graubünden, wir glauben, dass wir damit nicht schlecht gefahren sind». Er rechne jedoch mit einem Vorstoss aus dem Grossen Rat, der einen Regimewechsel verlangt, sagt Peyer weiter: «Wenn wir diesen Vorstoss haben, werden wir ihn prüfen».
SRF1, Regionaljournal Graubünden, 17:30 Uhr; habs