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Antworten auf Ihre Fragen Welt ohne Tierversuche: «Würde dann alles an Menschen getestet?»

Welt ohne Tierversuche? Tierschutzbeauftragte Michaela Thallmair, 3R-Koordinatorin Paulin Jirkof und Medizinethiker Jürg Streuli haben Ihre Fragen zu diesem Gedankenexperiment beantwortet.

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Michaela Thallmair
Tierschutzbeauftragte
Universität Zürich

Paulin Jirkof
3R-Koordinatorin
Universität Zürich

Jürg Streuli
Medizinethiker, Geschäftsführer
Stiftung Gesundheitskompass

Chat-Protokoll:

Was wäre, wenn am Menschen ohne Tierversuche geforscht würde? Es hat wirtschaftliche, gesundheitliche Folgen. Die Forschung, die Gesetzgebung usw müssten abgeändert werden. Ich bin dafür, dass der Mensch sich zur Verfügung stellt und die Konsequenzen in Kauf nimmt. Für die Tiermedizin müsste weiterhin an den Tieren geforscht werden.

Jürg Streuli: Ihre Idee ist aus einer bestimmten ethischen Perspektive konsequent, aber in der Praxis schwer umsetzbar. Zudem warum hätten Tiere in der Humanmedizin mehr Schutz als in der Veterinärmedizin. Sollte wir dann nicht auch ganz auf Haustiere verzichten?

Individuell ist bzw. wäre das ethisch gut nachvollziehbar. Aber für unsere Gesellschaft braucht es eine Entwicklung, welche alle Konsequenzen berücksichtigt. Der beste Ansatz wäre wohl eine weitere, schrittweise Reduktion von Tierversuchen durch innovative Alternativen – aber auch mit klaren Grenzen, um Menschenversuche nicht in eine sozial ungerechte oder unfreiwillige Richtung zu drängen.

Warum ist es verboten, dass sich Freiwillige (!) zur Verfügung stellen für riskante medizinische Forschung? In der Pandemie hätte es viele Freiwillige gegeben, aber sie durften nicht. Das verzögerte die Impfstoffentwicklung, weil stattdessen der Umweg übers Tier genommen wurde. In den Krieg ziehen, Extremsport treiben und ihr Leben sonstwie aufs Spiel setzen dürfen Menschen – warum nicht medizinische Helden sein?

Jürg Streuli: Klinische Versuche mit Freiwilligen ist innerhalb bestimmter Schadens-Grenzen sehr wichtig und wird breit durchgeführt. Besonders riskante medizinische Forschung wird aufgrund der ethischen Prinzipien wie dem Schutz vor Selbstschädigung, der Verhinderung von Missbrauch und der Unsicherheit über Langzeitfolgen eingeschränkt.

Der Nürnberger Kodex fordert freiwillige Zustimmung, aber eben auch ein angemessenes Risiko-Nutzen-Verhältnis. Während Menschen unter besonderen Bedingungen in den Krieg ziehen (müssen) oder Extremsport betreiben dürfen, liegt der Unterschied hier nun darin, dass medizinische Experimente nicht nur individuelle, sondern auch gesellschaftliche Folgen und Abhängigkeiten haben.

Eine Reform, die freiwillige Hochrisiko-Studien unter strengen Schutzmassnahmen erlaubt, wäre ethisch denkbar, aber es bleibt die Frage, ob das Risiko für Einzelne gerechtfertigt ist (die Frage stellt sich auch für Tiere) und ob wir feststellen können, dass sich der Mensch wirklich freiwillig und nicht aus z.B. finanziellem Druck dazu entscheiden muss.

Wie sieht es eigentlich aktuell mit den Zulassungsbedingungen für ein neues Medikament aus? Sind noch Tierversuche vorgebracht? Wie sieht das mit Generika aus? Müssen die auch einen Prozess durchlaufen, der Tierversuche beinhaltet, obschon das original diese schon absolviert hat?

Jürg Streuli: In der Schweiz müssen neue Medikamente ein strenges Zulassungsverfahren durchlaufen, das von Swissmedic der Schweizerischen Zulassungs- und Aufsichtsbehörde für Heilmittel, überwacht wird.

Dieses Verfahren umfasst mehrere Phasen (1. Präklinische Studien, 2. Klinische Studien, in denen das Medikament an menschlichen Probanden getestet wird, um seine Sicherheit und Wirksamkeit weiter zu evaluieren und 3.den Zulassungsantrag. Tierversuche sind somit derzeit ein integraler Bestandteil der präklinischen Phase und oft gesetzlich vorgeschrieben. Sie sollen sicherstellen, dass potenzielle Risiken für den Menschen minimiert werden.

Allerdings gibt es Bestrebungen, Tierversuche durch alternative Methoden zu ersetzen oder zu reduzieren, sofern dies möglich ist. Generika sind Nachahmerpräparate von bereits zugelassenen Originalmedikamenten mit identischen Wirkstoffen. Da der Wirkstoff bereits bekannt und etabliert ist, sind in der Regel keine neuen Tierversuche erforderlich.

Würde Forschung ohne Tierversuche günstiger ausfallen?

Paulin Jirkof: Das ist, wenn man ehrlich sein will sehr schwer zu beantworten und sicherlich von Fall zu Fall unterschiedlich. Tierversuche sind relativ teuer, weil sie z.B. eine komplexe Infrastruktur benötigen.

Aber auch die Etablierung neuer Technologien wie Organ-on-a-chip kann kostspielig sein. Allgemein geht man aber davon aus, dass viele in vitro Methoden oder Computersimulationen schneller und günstiger sind als typische Tierversuche.

Gibt es Pläne für neue Tierversuchsanlagen in der Schweiz? Wo wird gebaut/investiert?

Michaela Thallmair: Leider sind wir nicht in der Lage, diese Frage für die ganze Schweiz zu beantworten. Die UZH plant keine neue Versuchstierhaltung.

Ich erlebe die Menschen sehr oft als unehrlich rsp nicht konsequent. Natürlich soll man Tiere nicht unnötig quälen oder für Unsinn missbrauchen wie zB Kosmetik. Doch sind wir immer noch auf Tests angewiesen um Krebs etc. zu heilen. Alle welche Tierversuche ablehnen sollen bitte einen Ausweis auf sich tragen welcher besagt, dass man ihnen in keinem Fall Medikamente verabreicht, welche an Tieren ausprobiert wurden. Dasselbe gilt übrigens auch für Organspende. Auch da sollen alle welche ihre Organe nicht spenden wollen auch kein Anspruch auf ein solches haben.

Jürg Streuli: Ja, die Inkonsistenz vieler Menschen (zu allen möglichen Themen), gehört vielleicht auch zum Menschsein. Aber eine Lösung aus ethischer Sicht sollte nicht im radikalen Ausschluss von Andersdenkenden münden, sondern die Förderung ethisch vertretbarer Alternativer beinhalten, welche dann unterschiedliche Wege zulässt.

Es gibt starke Gründe, um leidvolle Handlungen an Tieren abzulehnen und ebenso starke Gründe die Versuche aktuell nicht sofort zu stoppen. Wichtig wäre es nun die Wege zu suchen, welche für beide möglich sind.

Es werden oft Behauptungen darüber gemacht, was passieren würde, wenn Tierversuche verboten/eingeschränkt würden. Auf welchen Daten oder Studien basieren diese Prognosen? Sind das nicht bloss wilde Spekulationen, solange es niemand versucht?

Michaela Thallmair: Es gibt meines Wissens keine Studie dazu, aber Überlegungen, die auf heute verfügbaren Informationen und Annahmen beruhen (REACH, OECD Guidelines, etc.).

Man muss ich dazu auch bewusst machen, was in der Schweiz als Tierversuch zählt. So könnte man bei einem Verbot von Tierversuchen bei der Ausbildung von Tierärzt:innen keine Tiere mehr einsetzen, Verhaltensstudien, Wildtierforschung oder klinische Studien im Tierspital wären nicht mehr möglich, und Chirurg:innen könnten keine neuen OP Methoden etablieren oder üben.

Ich bin extrem gegen tierversuche..ich finde von der ethik seite.. das man tiere nicht für solche zwecke missbrauchen darf..vor allem wie sie extreme qualen für uns menschen erleiden müssen.wir haben nicht das recht dazu...

Jürg Streuli: Danke. Das ist eine klare ethische Haltung, die auf dem Prinzip der gleichen moralischen Berücksichtigung von Tieren und Menschen (je nach Definition ist der Mensch ja auch ein Tier) basiert: Wenn Leid falsch ist, dann ist es auch falsch, Tiere für menschliche Zwecke leiden zu lassen.

Nun stellt sich uns aber die Aufgabe nach guten und erfolgreichen nächsten Schritten zu suchen, wie wir weiterkommen und wie wir unsere begrenzten Ressourcen bestmöglich verteilen – in einer Gesellschaft, die verschiedene Sichtweisen zulässt, aber über tausende von Jahren eine mehrheitlich andere Sichtweise bevorzugt hat (nämlich die von der Hierarchie des Menschen über das Nutztier).

Warum machen Universitäten wie die Uni Zürich einen «Tag des Versuchstiers» und keinen «Tag der Organoide»? Das wirkt sehr defensiv.

Michaela Thallmair: Danke für den Input. Die «UZH Tage des Versuchstiers» bestanden früher aus Vorträgen zu Tierversuchen und Ersatzmethoden (auch Organoiden) sowie Führungen durch Labore. Das Interesse an den Voträgen war leider so gering, dass wir dieses Angebot einstellten. Andererseits war die Nachfrage nach Besuchen von Tierhaltungen sehr gross.

Diese Führungen werden daher weiterhin angeboten, auch in Labore, die mit Fruchtfliegen arbeiten, die ja nach Schweizer Gesetz nicht geschützt sind und daher als «relativer» Ersatz für Tierversuche gelten. Ausserhalb der UZH Tage des Versuchstiers bieten wir Vorträge und Führungen zu Organoiden, Stammzellen etc. an, haben bisher aber keinen «Tag der Organoide».

Am 21.6.2025 ab 11h bieten das 3R Kompetenzzentrum, ETH, UZH und ZHAW zusammen eine öffentliche Informationsveranstaltung zum Thema «Neuroforschung im Wandel: Tiermodelle und ihre Alternativen» im ETH-Hauptgebäude an – mit Vorträgen und Informationsständen zu Stammzellen, Organoiden, 3D Bioprinting usw. Die Werbung für die Veranstaltung erfolgt in Kürze.

Hat der Nationalfonds einen Plan, wie er die Alternativen zum Tierversuch stärken will? Oder wartet er bequem, bis die Durchbrüche von anderen finanziert werden?

Jürg Streuli: Ja. 2021 lancierte der Bundesrat das Nationale Forschungsprogramm NFP 79 “Advancing 3R – Tiere, Forschung und Gesellschaft”, das mit 20 Millionen Franken dotiert ist und fünf Jahre dauert. Ziel ist es, die Anzahl der Tierversuche zu reduzieren und die Belastung der Tiere zu verringern.

Zudem wurde 2018 das 3R-Kompetenzzentrum Schweiz gegründet, das Forschungsprojekte finanziert und sich für die Etablierung einer 3R-Kultur einsetzt. Ob es genügt, ist eine andere Frage. Die Zahlen lassen aktuell noch Zweifel zu.

Wie viele Tiere können nach dem Versuch weitervermittelt werden? Wie viele werden getötet?

Paulin Jirkof: Die Universität Zürich sowie andere Schweizer Universitäten vermitteln ehemalige Versuchstiere wie Mäuse, Ratten und Kaninchen an Private (in Zusammenarbeit mit Tierschutzorganisationen wie STS und ZT). Es kann allerdings nur ein kleiner Anteil der in der Forschung eingesetzten Tiere an Private vermittelt werden.

An der UZH waren es bis November 2024 380 Ratten, 281 Mäuse, 26 Hunde und 17 Kaninchen. Die Gründe dafür, dass viele Tiere nicht abgegeben werden können, sind z.B. dass Organe, Gewebe oder Körperflüssigkeiten am Ende eines Versuchs aus wissenschaftlichen Gründen entnommen werden müssen und die Tiere dafür getötet werden, dass ein Tier in einem schwerbelastenden Versuch war und es um weiteres Leiden zu vermeiden eingeschläfert wird oder dass das Tier genetisch verändert ist (dies trifft auf die Mehrheit der Versuchsmäuse zu) und daher aus gesetzlichen Gründen nicht an Private abgegeben werden darf.

Es werden daher die meisten kleinen Versuchstiere, wie Mäuse und Ratten, nach dem Versuch getötet. Grössere Tiere wie Hunde werden, wenn möglich nach dem Ausscheiden aus Versuchen als Haustiere vermittelt.

forschen die forschenden überhaupt an den dringendsten problemen der menschheit? ich sehe in den statistiken viel grundlagenforschung (auch mit tierversuchen) und nur wenig klimaforschung oder forschung über wohlstand und ungleichheit. neue medikamente, die sich fast niemand leisten kann, während der planet abbrennt, bringen niemandem etwas ausser der pharma. wozu also all die tierversuche?

Jürg Streuli: Ihre Frage trifft einen wunden Punkt: Wir befinden uns in einem wissenschaftlich-wirtschaftlichen System, das auf Wettbewerb ausgerichtet ist und von Pharma, Biotech und akademischen Interessen “bespielt” wird. Sie erinnert uns daran, dass wir nicht in eine Schwarz-Weiss-Sicht verfallen dürfen, in der Fortschritte in einem Bereich automatisch gegen andere ausgespielt werden.

So gesehen haben Sie recht: Die Forschung muss sich immer wieder Fragen, ob sie den Fokus auf die grossen Probleme der Menschheit nicht verliert, trotz möglichen wirtschaftlichen oder individuell-menschlichen Interessen.

Wie transparent und zugänglich sind Tierversuchslabore von Firmen und Universitäten in der Schweiz. Wer prüft vor Ort die Einhaltung der Standards und gibt es öffentliche Berichte dazu?

Michaela Thallmair: In vielen Institutionen der Schweiz gibt es Möglichkeiten, Versuchstierhaltungen zu besuchen. So haben wir an der UZH immer wieder Führungen für Schulklassen und andere interessierte Personen, zudem bieten wir jährlich an den «UZH Tagen des Versuchstiers» Führungen für Mitarbeitende und Studierende der UZH an.

Die Einhaltung des gesetzlichen Rahmens und der Bedingungen der Tierversuchs- oder Versuchstierhaltungsbewilligung wird von der Fachstelle (Veterinäramt und Tierversuchskommission) geprüft. Versuchstierhaltungen müssen mindestens jährlich, im Kanton ZH gemäss Kantonaler Gesetzgebung 2x/Jahr kontrolliert werden. Ausserdem müssen mindestens 20% der Tierversuchsbewilligungen kontrolliert werden.

Soweit mir bekannnt ist, gibt es keinen öffentlichen Bericht über diese Kontrollen, ausser, wenn es zu einer Strafanzeige käme. Statistiken dazu werden im Kanton ZH im Jahresbericht des Veterinäramts publiziert. An den meisten Institutionen werden zudem interne Kontrollen von Tierversuchen und der Versuchstierhaltung durch Tierschutzbeauftragte/3R Fachpersonen durchgeführt.

Wir wissen nicht, welche Fortschritte mit unfreiwilligen Menschenversuchen möglich wären. Der Mensch ist das perfekte Modell des Menschen. Wir verpassen also bewusst massive, massive Verbesserungen in der Medizin & Grundlagenwissen. Wie rechtfertigen Sie das?

Jürg Streuli: Das Argument ist provokant, aber es stellt eine zentrale ethische Frage: Warum schliessen wir unfreiwillige Menschenversuche kategorisch aus, obwohl sie wissenschaftlich die besten Ergebnisse liefern könnten?

Die Antwort, dass wir es aus Sicht des Rechts auf Selbstbestimmung, auf das Prinzip Nicht zu Schaden wie auch der Gerechtigkeit nicht tun dürfen, fällt aus rechtlicher und medizinethischer Sicht sehr deutlich aus und ist seit dem Nürnbergerprozess als Reaktion auf die Greuelexperiment an Menschen im NS-Regime auch historisch leider mit einem Ausrufezeichen unterlegt.

ABER: die Frage stellt sich aus ethischer Sicht natürlich sofort: weshalb ist es jetzt für Tiere anders? Was gibt uns das Recht das eine Tier anders zu nutzen, als das andere Tier bzw. den Menschen und dem einen mehr Schaden/Schmerz anzutun als dem anderen. Ihre Frage kommt dann quasi als Bumerang zurück in unsere Diskussion und zeigt unser Dilemma auf.

Falls Tierversuche international abgeschafft werden benötigt es Millionen von Tieren nicht mehr. Geht es dann diesen Tieren besser wenn sie nicht mehr geboren / gezüchtet werden? Nicht jedes Versuchstier hat ein lausiges Leben

Paulin Jirkof: 1) Nicht jedes Tier, welches in einem Tierversuch eingesetzt wird, wird auch für diesen Zweck gezüchtet. Haustiere, die an einer klinischen Studie teilnehmen, werden ebenfalls als Versuchstiere in der Schweizer Statistik gezählt.

Auch Nutztiere, die in epidemiologischen Studien untersucht werden oder Wildtiere, die aus wissenschaftlichen Gründen beprobt werden, werden als Versuchstiere in der Statistik gezählt.

2) Nicht alle Tierversuche sind belastend (Schweregrad 0), z.B. Beobachtungsstudien. Ob es für ein Tier besser oder schlechter ist, nicht geboren zu werden, ist eine philosophische Frage, die ich nicht beantworten kann.

Wie beurteilt ihr als Expertinnen und Experten den Widerspruch, dass gerade im Umfeld von Tierversuchen so stark gesellschaftlich wahrnehmbar über Nutzen und Tierwohl diskutiert wird – und andererseits im Umfeld von Konsum (Fleisch, Leder, Pelz, Milchprodukte usw) hingegen eine Abwägung von Nutzen und Leid sich doch so gravierend anders darstellt – aber doch viel weniger im «Schussfeld» steht? Sind die Tierschutzbedingungen in dem Umfeld Konsum / Forschung identisch? Kennt ihr die Unterschiede hinsichtlich «genutztes» Leben im Unterschied Forschung zu Konsum?

Jürg Streuli: Das wäre tatsächlich paradox, wenn der moralische Konflikt bei Tierversuchen intensiver diskutiert wird, als bei der Nutzung von Tieren im Konsum. Vielleicht entsteht diese Wahrnehmung, weil Tierversuche eine bewusste Entscheidung erfordern, der Konsum tierischer Produkte in unserer Gesellschaft aber eher „automatisch“ geschieht– das führt zu weniger kritischer Reflexion.

Beides hängt aber eng zusammen und macht die ganze Diskussion auch so schwierig und mündet immer wieder in der Frage, welche Verantwortung und Rolle wir gegenüber Tieren einnehmen, wie sich diese Haltung in unserer Geselleschaft verändert hat und was das für uns und unser Verhaltung (und die Gesetze) bedeutet.

Und je nach Position gibt es dann unterschiedliche Haltungen, die sich teils wiederum widersprechen.

Was macht es mit einem Menschen, wenn dieser Tag ein Tag aus Tiere infizieren und töten muss?

Paulin Jirkof: Das müsste man eine Person fragen, die Tierversuche durchführt. Jede/r steht dazu persönlich sicherlich unterschiedlich.

Ich bin mir aber sicher, dass sich die Forschenden mit dem inhärenten ethischen Dilemma beschäftigt haben und dass diese Arbeit unterschiedliche Personen unterschiedlich stark belastet.

Ich habe gehört, dass im Ausland mehr gemacht wird um die Tierversuche zu verringern, z B Deutschland, Holland. Stimmt das? Was kann die Schweiz besser machen?

Jürg Streuli: Sie haben Recht, ja. Niederlande und Deutschland unternehmen erhebliche und teils andere Anstrengungen, um Tierversuche zu reduzieren und durch tierversuchsfreie Methoden zu ersetzen. Man könnte sicher von einander lernen.

So wurden in den Niederlanden erhebliche finanzielle Mittel für ein Zentrum für tierversuchsfreie biomedizinische Forschung vom Parlament zu Verfügung gestellt.

Würden Sie in einer Welt ohne Tierversuche noch Ihren Lohn bekommen? Falls nein: Warum sollte man Sie als unabhängige Fachperson ernst nehmen?

Paulin Jirkof: Ich kann diese Frage nur für mich beantworten. Als 3R Koordinatorin unterstütze ich Forschende, Lehrende und andere Personen, die mit Tierversuchen und Ersatzmethoden beschäftigt sind.

Wenn in der Schweiz keine Tierversuche mehr durchgeführt werden würden, gäbe es eine Notwendigkeit Ersatzmethoden zu entwickeln, zu etablieren und einzusetzen, Forschungseinrichtungen umzubauen, Forschende und Studierende in tierversuchsfreien Methoden auszubilden etc.

Ich gehe davon aus, dass es also zumindest in einer Transitionsphase auch weiterhin 3R Fachpersonen braucht.

Falls Tierversuche nur lokal verboten werden, dürfte es nur zu einer Verlagerung ins Ausland kommen. Im Bereich Pharmazie sind beispielsweise gewisse in vivo Tierversuche von den Zulassungsbehörden vorgeschrieben. Und da kommt nicht nur die Swissmedic zur Prüfung vorbei.

Michaela Thallmair: So lange man Tierversuche nicht vollständig ersetzen kann, würde ein lokales Verbot in einem Land auch m.E. dazu führen, dass Tierversuche ins Ausland ausgelagert würden.

Dabei gilt es zu bedenken, dass die Gesetzgebung in anderen Ländern, inbesondere ausserhalb des Europäischen Raumes oft weitaus weniger streng ist als in der Schweiz.

Sind die Befürworter einer Welt ohne Tierversuche selber und persönlich bereit, als Versuchsobjekte Risiken in der Medikamentenentwicklung zu tragen?

Jürg Streuli: Viele Menschen die sich für Tierrechte einsetzen, sind sicher bereit zum Wohl von Tieren Einschränkungen in Kauf zu nehmen. Wie sich ein Mensch dann konkret verhält, wenn eine lebensnotwendige Therapie nötig wird, die – wie die meisten aktuellen Medikamenten – teilweise mit Tierversuchen in Verbindung steht, ist aber sehr schwierig zu sagen.

Die meisten Tierversuchsgegner argumentieren aber ja nicht für eine simple Verlagerung der Risiken auf Menschen, sondern für eine grundsätzliche Veränderung unserer Forschung.

Wie alt ist das 3R Prinzip? Und weshalb sind immer noch in der Phase, in welcher wir dies implementieren? Es wird viel über 3R geredet, als wäre es etwas verhältnismässig neues?

Paulin Jirkof: Das 3R Prinzip ist ein angewandtes wissenschaftliches Prinzip, es beschreibt den Ersatz (Replacement), die Verringerung (Reduction) und Verbesserung (Refinement) von Tierversuchen.

Das Prinzip wurde bereits 1959 von Russel & Burch publiziert. Auch wenn es in der Vergangenheit eine wichtige Rolle in der Forschung mit Tieren gespielt hat, hat das 3R Prinzip erst in den letzten Jahren mehr politische und finanzielle Aufmerksamkeit erhalten. So wurden in den letzten 10-15 Jahren weltweit lokale und nationale 3R Zentren gegründet, wie zum Beispiel in der Schweiz im Jahr 2018.

Das 3R Prinzip beschreibt einen kontinuierlichen Prozess der Verbesserung und dieser Prozess ist solange es Tierversuche gibt nie abgeschlossen. Wir müssen also auch in Zukunft noch über die Implementierung von 3R Methoden sprechen.

wie wird « Tierversuch » genau definiert? Verhaltensforschung mit Tieren, Ernährungsstudien mit Nutztieren, Dressur, Tierzucht etc. sind ja im weiten Sinne auch Formen von Tierversuchen.

Michaela Thallmair: Der Tierversuch ist in der Schweiz sehr umfassend definiert. Gemäss Art. 3c des Schweizer Tierschutzgesetz ist ein Tierversuch «jede Massnahme, bei der lebende Tiere verwendet werden mit dem Ziel:

1. eine wissenschaftliche Annahme zu prüfen,

2. die Wirkung einer bestimmten Massnahme am Tier festzustellen,

3. einen Stoff zu prüfen,

4. Zellen, Organe oder Körperflüssigkeiten zu gewinnen oder zu prüfen, ausser wenn dies im Rahmen der landwirtschaftlichen Produktion, der diagnostischen oder kurativen Tätigkeit am Tier oder für den Nachweis des Gesundheitsstatus von Tierpopulationen erfolgt,

5. artfremde Organismen zu erhalten oder zu vermehren,

6. der Lehre sowie der Aus- und Weiterbildung zu dienen.» Mit dem ersten Absatz (Prüfung einer wissenschaftlichen Annahme unter Verwendung lebender Tiere) wird klar, dass auch reine Verhaltensbeobachtungen einen Tierversuch darstellen und demnach eine Bewilligung benötigen.

Weitere Beispiele für Tierversuche, die manche Person nicht als solche einschätzen würde, wären genau wie angedeutet Ernährungsstudien bei Nutz- oder Haustieren, auch wenn man Futtermittel vergleicht, die man sowieso füttert oder auch klinische Studien im Tierspital.

Genauso zählt die Verwendung von Tieren bei der Ausbildung von (angehenden) Tierärzt:innen oder Landwirt:innen als Tierversuche (bspw. Ultraschallkurse für praktizierende Tierärzt:innen; Besamungskurs für Landwirte und Landwirtinnen), auch wenn z.B. Studierende ihre eigenen Hunde nutzen, um im Studium einen Untersuchungsgang am Hund zu erlernen.

NB: Diese Hunde zählen dann auch für die Versuchstierstatistik.

Wie arbeiten die Institutionen daran, die Tierversuchszahlen zu senken?

Paulin Jirkof: In der Schweiz muss jede Institution, die Tierversuche durchführt eine Fachperson für Tierwohl und 3R (Replacement, Reduction, Refinement von Tierversuchen) haben, die z.B. Forschende bei der Umsetzung der 3R Prinzipien unterstützt.

Die 3R Koordinator:innen der Schweizer Hochschulen und Fachhochschulen sind zusätzlich im Schweizer 3R Kompetenzzentrum aktiv um lokale und nationale 3R Initiativen zu unterstützen.

Lokale Massnahmen um Tierversuchszahlen zu senken sind z.B. die finanzielle Förderung von Projekten und Techniken, die ohne die Nutzung von Tieren oder tierischem Material auskommen, die Bereitstellung von Biobanken oder Sharing-Platformen zur weiteren Nutzung von tierischem Material oder überzähligen Tieren, Ausbildung und Lehre im Bereich 3R für (insbesondere angehende) Forschende, die Verbesserung des Zuchtmanagement für (insbesondere genetisch veränderte) Versuchstiere.

Die veterinärmedizinischen Fakultäten setzen zum Beispiel in der Lehre auch Tierdummys (Tiersimulatoren) ein, um den Einsatz von lebenden Tieren zu reduzieren und die Studierenden auf den Umgang mit Tieren vorzubereiten.

Warum lehnen Tierversuchskommissionen praktisch keine Gesuche ab?

Michaela Thallmair: Auf der BLV-Webseite findet man die Zahlen für erteilte und abgelehnte Bewilligungen, allerdings nur für das Jahr 2023. In 2023 wurden schweizweit 828 Bewilligungen erteilt und 4 abgelehnt, also 0.5%. Diese Zahl ist allerdings nur dann richtig zu interpretieren, wenn man weitere Informationen hat: Bevor ein Antrag bei der Behörde eingereicht werden kann, gibt es eine strenge Prüfung durch die Tierschutzbeauftragten der jeweiligen Institution.

Schon in diesem Schritt wird das Gesuch inbesondere auf die methodische und finale Unerlässlichkeit geprüft: Gibt es tierversuchfreien Alternativen? Ist die Methode geeignet? Ist die Tierzahl nachvollziehbar begründet? Werden sog. «refinements» angewandt, also Methoden zur Verbesserung des Tierwohls und zur Verringerung der Belastung?

In diesem Schritt fordern Tierschutzbeauftragte und 3R Fachpersonen Anpassungen ein und der Antrag wird durch die Tierschutzbeauftragten erst dann bei der Behörde eingereicht, wenn alle Anforderungen und Überarbeitungen von den Antragsstellenden erfüllt wurden.

Die Anträge werden dann von der jeweiligen Behörde (Kantonales Veterinäramt) und unabhängig davon auch von der Kantonalen Tierversuchskommission geprüft. Dabei werden durch die Tierversuchskommission oder das Veterinäramt bei fast allen Anträgen weitere Anpassungen eingefordert.

Nach mehreren Runden mit Rückfragen/Kommentaren seitens Kommission/Behörde und Antworten/Überarbeitungen durch die Antragssteller kommt es zu einem Entscheid: Erteilung einer Bewilligung (mit oder ohne Auflagen) oder Ablehnung. Wenn der Entscheid eine Ablehnung ist, dann erhalten die Antragssteller die Möglichkeit, das Gesuch zurückzuziehen und rechtliches Gehör.

Oft werden Gesuche, denen Ablehnung droht, zurückgezogen und erscheinen dann nicht auf der Statistik. Für Forschende der UZH wurden in den Jahren 2022-2025 (Stand heute) 504 Bewilligungen erteilt und 11 abgelehnt (2.2%) – diese 11 Anträge wurden alle von den Forschenden zurückgezogen.

Wie viel Forschungsgeld fliesst in Tierversuche vs Alternativen?

Paulin Jirkof: Das lässt sich nicht vollständig beantworten, weil dies in der Schweiz nicht von allen Institutionen erhoben wird, die Forschung finanzieren. Ausserdem werden in Forschungsprojekten oft Tierversuche und Alternativen gemeinsam angewendet.

Der Schweizer Nationalfonds berichtet für 2023, dass 11% aller geförderten Projekte Tierversuche enthielten und 16% der totalen Mittelausschüttung von CHF 1,036 Mrd für Projekte mit Tierversuchen gesprochen wurden.

Das Schweizer 3R Kompetenzzentrum hat in 2023 1.8 Mio CHF für 3R Projekte (Ersatz, Reduktion und Verbesserung von Tierversuchen) gesprochen, das das nationale Forschungsprogramm «Advancing 3R – Tiere, Forschung und Gesellschaft» (NFP 79) des SNF finanziert 3R Projekte mit insgesamt 20 Mio CHF zwischen 2022-2028.

 

10vor10, 6.2.25, 21:50 Uhr ; 

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