Momentan leben acht Milliarden Menschen auf der Erde, Tendenz steigend. Doch dieser Trend versteckt die Tatsache, dass die Geburtenraten in vielen Ländern gering sind. Im nächsten Jahrhundert drohen knapp 50 Ländern ein Rückgang und die Überalterung der Bevölkerung. Wie werden sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft an diese neue Realität anpassen? Werden wir in einem grünen Utopia leben – oder steigt die Arbeitslast?
Eine Fachrunde hat Ihre Fragen zu diesem Thema beantwortet. Die Antworten finden Sie im Chat-Protokoll.
Chat-Protokoll:
Würde es Europa dann besser gehen?
Kenneth Harttgen: Bei einer langfristigen Verringerung der Bevölkerung wären die Effekte weniger schockierend als bei einer plötzlichen Halbierung, aber langfristig könnten europäische Volkswirtschaften stagnieren, und es würde zu erheblichen demografischen Herausforderungen kommen. Während die Umwelt profitieren könnte, würden Gesellschaften mit Überalterung und einem Mangel an Innovation kämpfen.
Selbst wenn es nur noch die halbe Anzahl an Menschen gibt: seit Menschengedenken ist das Streben nach Macht und Ansehen Auslöser für soziale Ungerechtigkeit. Ergo: weniger Menschen, dafür noch mehr soziale Ungerechtigkeit?
Kenneth Harttgen: Vielen Dank für diese anregende Frage. Es ist eher unwahrscheinlich, dass eine geringere Bevölkerungszahl allein zu einer gerechteren Welt führt. Gerechtigkeit erfordert strukturelle Veränderungen, um sicherzustellen, dass Ressourcen, Macht und Chancen fair verteilt werden. Die Frage nach Gerechtigkeit ist letztlich eine Frage der sozialen und politischen Rahmenbedingungen und nicht nur der Anzahl der Menschen.
Wie würde sich die globale Nahrungsmittelproduktionsverteilung verändern? Und wer wäre Gewinner/Verlierer?
Kenneth Harttgen: Das ist natürlich schwer zu prognostizieren. Die Verteilung der Nahrungsmittel muss sich nicht zwangsläufig ändern.
Würden Menschen in einer weniger überfüllten Welt weniger Stress und psychische Belastungen erleben, oder könnten Isolation und Einsamkeit durch eine geringere Bevölkerungsdichte ein Problem werden? Wie würde sich das Immunsystem der globalen Bevölkerung langfristig entwickeln?
Kenneth Harttgen: In einer kleineren Bevölkerung könnten Gemeinschaften enger und solidarischer werden. Weniger Menschen könnten aber auch weniger kulturelle Vielfalt und natürlich auch zunehmende Isolation bedeuten, was langfristig zu sozialen Problemen führen könnte.
Lassen sich bei diesem Gedankenexperiment Aussagen über eine mögliche Verschiebung der globalen Machtverhältnisse treffen? Ist unter Berücksichtigung der sinkenden Geburtenraten (siehe SRF-Beitrag) eine Machtverschiebung vom globalen Norden in den Süden denkbar?
Kenneth Harttgen: Eine geringere Bevölkerungszahl garantiert nicht automatisch eine Verschiebung von Machtstrukturen. Dies ist letztlich eine Frage der sozialen und politischen Rahmenbedingungen und nicht nur der Anzahl der Menschen. Viele Länder könnten versuchen, den Bevölkerungsrückgang durch verstärkte Migration auszugleichen. Dadurch könnte ein Wettkampf um Migranten aus «jüngeren» Ländern entstehen und Ländern im globalen Süden eine grössere Verhandlungsmacht bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen ermögliche.
Gäbe es Arbeitskräftemangel, oder würde die Produktivität durch Technologisierung und Automatisierung stabil bleiben?
Kenneth Harttgen: Eine schrumpfende und alternde Bevölkerung könnte die Innovationsfähigkeit und Produktivität einschränken. Es gibt weniger junge Menschen, die neue Ideen und Technologien voranbringen.
Würden bestimmte Branchen oder Industrien stärker betroffen sein, z.B. Konsumgüter, Immobilien oder Gesundheitssektor?
Kenneth Harttgen: Arbeitsintensive Branchen (z.b. Pflege/Gesundheitssektor) wären stärker betroffen als Kapitalintensive Branchen, die weniger auf Arbeitskräfte als auf Maschinen angewiesen sind (z.b. die Automobilproduktion).
Mich würde interessieren, was mit der globalen Wirtschaft geschehen würde, wären bloss noch 4 Milliarden Kunden da? Herzlichen Dank.
Kenneth Harttgen: Die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen würde stark sinken, was zu einem Zusammenbruch von Märkten und einer globalen Wirtschaftskrise führen könnte. Viele Volkswirtschaften würden deshalb stagnieren.
Wäre der Fortschritt in der Medizin, insbesondere bei der Bekämpfung von Pandemien, in einer Welt mit weniger Menschen anders?
Marcel Zwahlen: Ich denke nicht, wobei ja nicht klar ist, was Sie hier mit «anders» meinen. Wissenschaftliche Erkenntnisse lassen sich nicht zurückdrehen. Die Frage ist eher, wie schnell und gut es gelingt, auf neue katastrophale medizinische Ereignisse (wie neue Pandemien) zu reagieren. Es ist unmöglich vorauszusehen, ob es auch in Zukunft gelingt, rasch Lösungen zu finden. Ich bin aber zuversichtlich.
«Gedankenexperiment, dass morgen nur noch vier Milliarden Menschen auf der Erde wohnen.» Wenn es so wäre (morgen noch 4Mia.), würde dies das Ganze nicht noch drastisch verstärken? Bestände da nicht das Risiko, dass das gesammte Wirtschaftssystem auseinanderfällt. Am einen Ort massive Überproduktion (Dank Maschinen und co.) und an anderen Orten fehlt es dann an genügend geschultem Personal.
Marcel Zwahlen: Das Szenario mit «morgen» wäre in der Tat nur mit einer heftigen Katastrophe als Ursache denkbar – mit allen Auswirkungen einer Katastrophe. Wie der Beitrag erläutert, geht es eher um eine mögliche aber sich langsam gestaltende Veränderung.
Würde sich die allgemeine Gesundheit der Bevölkerung verbessern, wenn weniger Menschen die Ressourcen teilen müssen?
Marcel Zwahlen: Wenn alle Menschen den gleichen Zugang zu den Ressourcen hätten, dann wäre die Antwort wohl ein «JA». Heute besteht jedoch eine grosse Bandbreite, was ein Mensch (pro Kopf) an Ressourcen hat (oder Zugang hat). Man müsste daher auch die Bandbreite reduzieren, damit möglichst alle den gleichen Zugang haben.
Wie haben frühere Bevölkerungsrückgänge, wie z.B. die Pest im Mittelalter, den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel beschleunigt?
Siegfried Weichlein: Sie deuten selbst die Antwort an. Die Pest im Mittelalter um 1350 beschleunigte den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel. Vor allen Dingen aber schlug sie sich in veränderten Denkmustern und einer kognitiven Revolution nieder. Es gibt Kollegen, die eine lange Linie ziehen von der Pest im 14. Jahrhundert zur Reformation zu Beginn des 16. Jahrhunderts.
Würden Pandemien seltener oder weniger schwerwiegend, weil sich Menschen weniger häufig auf engem Raum begegnen?
Marcel Zwahlen: Wer die Antwort auf diese Frage kennt, hat finanziell ausgesorgt. Ernsthaft: Grundsätzlich und von der Bedeutung des Begriffs «Pandemie» her handelt es sich um Infektionskrankheiten, die sich durch einen neuen Erreger, evtl auch schnell, übertragen. Die Aidserkrankung durch das HI-Virus war und ist auch eine Pandemie (noch nicht gelöst), und beim HI-Virus geht es nicht darum, sich im öffentlichen Raum zu bewegen. Wenn der Erreger über Husten und die Atemwege übertragen wird, dann Ja: viele Leute auf engem Raum sind ein Problem. Dies war auch schon in der Grippe Pandemie 1918 der Fall, mit viel weniger Menschen auf dem Globus.
Unser aktuelles Wirtschaftssystem basiert auf zwei Faktoren, die mittelfristig nicht mehr funktionieren: Wachstum und Rohstoffausbeutung. Wenn das Wachstum zurück geht, ist dann eine Wirtschaft im heutigen Sinn noch möglich? Was wären die Alternativen?
Siegfried Weichlein: Als Historiker bewege ich mich hier auf dünnem Eis. Jedenfalls haben sich Befürchtungen in der Vergangenheit, wie diejenigen von Thomas Robert Malthus, nicht bestätigt. Er hatte ein geometrisches Wachstum der Bevölkerung und ein nurmehr arithmetisches Wachstum der Nahrungsmittel vorhergesagt. Das ist so nicht eingetreten. Vielleicht mahnt das zur Vorsicht bei heutigen Spekulationen über den Zusammenhang von Weltbevölkerung. Rohstoffausbeutung und Klimawandel.
Soll die Welt, wenn die reichen Länder schrumpfen und altern, mehr oder weniger Geld ausgeben für Afrika, resp. für diejenigen Länder, die weiterhin ungebremst wachsen oder sollte man diesen Ländern auch Ziele setzen, ihre Bevölkerung zu reduzieren. (Bisher war es ja eher eine Verdreifachung in den letzten 50 Jahren in vielen Ländern in Afrika und somit auch eine Vervierfachung der Problem)
Kenneth Harttgen: Hier muss man sich natürlich verschiedene mögliche Auswirkungen betrachten. Obwohl etwa 50 Prozent der Weltbevölkerung in Ländern mit hohem und mittlerem Einkommen leben, sind sie für etwa 85 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. Der Anteil von Afrika an den weltweiten CO2-Emissionen etwa 4 bis 5 Prozent. Das bedeutet zunächst mal, dass die CO2-Emmissionen nicht so schnell wachsen werden, wenn die Bevölkerung in Afrika wächst. Aber natürlich stellt sie die Frage was passiert, wenn der Lebensstandard in armen Ländern steigt (mit vielen positiven Effekten wie einer Verringerung extremer Armut oder Kindersterblichkeit). Mit steigendem Wohlstand steigt auch die Nachfrage nach Energie und natürlichen Ressourcen. Entscheiden (für die Umwelt) wird sein, wie diese Nachfrage befriedigt werden wird. Wenn afrikanische vermehrt nachhaltige Technologien verwenden, wäre könnte man die negativen Umwelteffekte abfedern. Das hängt aber natürlich auch von der Entwicklung der Bildung in armen Ländern ab.
Gibt es historische Präzedenzfälle für eine drastische Reduzierung der Weltbevölkerung, und was können wir daraus lernen?
Siegfried Weichlein: Historisch gab es mehrmals eine drastische Reduzierung der Weltbevölkerung. Aber heute reden wir über von Menschen verursachten Klimawandel, nicht über Meteoriteneinschläge oder Eiszeiten. Auf europäischer Ebene könnte man den Dreissigjährigen Krieg nennen, der in Mitteleuropa etwa ein Drittel aller Bewohner tötete. Die Folgen reichten bis ins 18. Jahrhundert und führten zu einem völligen Systemumbau.
Würden wir eine stärkere soziale Kohäsion oder grössere gesellschaftliche Unterschiede erleben?
Kenneth Harttgen: In einer kleineren Bevölkerung könnten Gemeinschaften enger und solidarischer werden. Weniger Menschen könnten aber auch weniger kulturelle Vielfalt bedeuten. Es könnte ausserdem zu Konflikten zwischen den Generationen kommen, da die jüngeren Generationen die Last der Unterstützung der Älteren tragen müssten.
Bei halb so viele Menschen braucht es weniger Gebäude und weniger Infrastruktur. Wenn es als gesichert gilt, dass die Weltbevölkerung bald abnehmend sein wird, a) könnte man heute bei einer friedlichen, vernünftigen Menschheit prognostizieren / politisch steuern in welchen Regionen diese Menschen künftig auf der Erde leben werden und b) was sind die heutigen Lösungsansätze, damit später die Menschheit nicht viele leere Bauruinen hinterlässt?
Marcel Zwahlen: Schwierig zu beantworten. Etwas mehr Klarheit über das Wörtchen «bald» ist nötig. Die Prognosen (die halt immer schwierig sind) zur schwindenden Weltbevölkerung (siehe Grafik im SRF-Beitrag) gehen von langsam sich entwickelnden Veränderungen aus. Die Gesamtzahl im Jahr 2100 ist gar nicht so viel tiefer als im Jahr 2000. Dass die Prognosen so unterschiedlich zwischen den Kontinenten sind, wird die Frage aufwerfen, ob das lokal «baulich» gelöst werden kann, oder ob «umgezogen» wird. Ich wage zu vermuten, dass so schnell nicht Bauruinen rumstehen; oder nicht schneller als bei schnellem Bauen mit schlechter Bausubstanz – aber eben, ich bin Epidemiologe und nicht Architekt.
Welche Probleme, mit denen die Menschheit heute konfrontiert ist, werden NICHT von der menschlichen Überbevölkerung verursacht, oder zumindest verstärkt? Es gibt eine ellenlange Liste von Problemen, die durch mehr Menschen verursacht oder verstärkt werden: Intensive Landwirtschaft (Pestizideinsatz, Bodenverdichtung, Monokulturen, Verlust der Biodiversität), Überfischung der Ozeane, Abholzung der Regenwälder, Ausbreitung von Siedlungsflächen/ Verbau von Landschaften für Wohnungen, Strassen, Fabriken. Weiter auch Erhöhter Ressourcenverbrauch (Erdöl, Erdgas, Metalle), mehr Verschmutzung (Luftverschmutzung, Plastikmüll in Weltmeeren, Chemiegifte in Wasserkreislauf), und grob auch der menschgemachte Klimawandel.
Kenneth Harttgen: Die von Ihnen genannten Probleme sind natürlich extrem ernst und stellen eine Bedrohung unser Welt und unserer Gesellschaft dar. Die Frage ist aber, ob die Ursache darin liegt, dass es «zu viele» Menschen gibt. Wie bereits in der Sendung und im TV-Beitrag beschrieben, würde eine Verringerung der Bevölkerung nicht nur positive Effekte haben. Vielmehr geht es ja um die Frage, wie wir unsere Ressourcen nachhaltig nutzen können (und warum wir das oft nicht tun). Dies ist letztlich eine Frage der sozialen und politischen Rahmenbedingungen und nicht nur der Anzahl der Menschen.
Mit welcher Signifikanz würde sich der Klimawandel durch den Rückgang der Weltbevölkerung reduzieren? Könnten somit Ökosysteme durch freiwerdenden Platz, welcher zuvor zur Behausung genutzt wurde, wiederhergestellt werden?
Kenneth Harttgen: Das ist natürlich nicht so einfach zu quantifizieren. Zum Beispiel hängt ed davon wo wir Bevölkerungswachstum oder -schrumpfung beobachten. Obwohl etwa 50 Prozent der Weltbevölkerung in Ländern mit hohem und mittlerem Einkommen leben, sind sie für etwa 85 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. D.h. eine Reduktion der Bevölkerung in reichen Ländern könnte einen grossen Effekt auf die Umwelt haben als eine Reduktion in armen Ländern.
Welche Technologien und Mittel können dem demographischen Wandel für Pflege und Versorgung der alternden Generation entgegengesetzt werden? Ist longevity überhaupt sinnvoll/ sozial? wie lässt sich der Generationenvertrag überhaupt beibehalten (ältere werden älter, jüngere erhalten weniger Zukunftsleistungen)? lassen demokratische Entscheidungen überhaupt Kostensenkungen im Gesundheitswesen zu? Die letzten 2 Lebensjahre kosten med. statistisch mehr als das gesamte Leben. Ist das sinnvoll?
Kenneth Harttgen: Im Bereich der Pflege werden ja jetzt zunehmen Technologien eingesetzt, die die Versorgung der alternden Generation unterstützen kann. Z.B. können Roboter Unterhaltungen führen. Zum Generationenvertrag: Das ist eine sehr spannende Frage. Wenn es immer weniger «junge» Menschen gibt, die für die ältere Generation aufkommen, muss kann dies zu sozialen Spannungen führen, beispielsweise bei der Frage nach Steuererhöhungen oder was mit öffentlichen Mitteln gemacht wird.
Was für einen Einfluss hat der Rückgang der Weltbevölkerung auf den Klimawandel? Respektive können durch den Rückgang der Weltbevölkerung die Folgen des Klimawandels gemildert werden?
Marcel Zwahlen: Diese beiden Fragen sind nicht ohne zusätzliche Annahmen – spekulativ – zu beantworten. Was zusätzlich berücksichtigt werden muss, ist der pro Kopf «Einfluss» (sagen wir vereinfachend der CO2-Ausstoss pro Kopf) von den vorhandenen Menschen. Etwas salopp gesagt: wenn alle die vorhandenen (wenn auch weniger als heute) Menschen pro Kopf und Jahr gleich viel ausstossen wie aktuell in den USA oder in der Schweiz wird der Klimawandel nicht gebremst. Klar, bei gleichem Durchschnitts-Ausstoss sind weniger Menschen besser fürs Abbremsen.
Alle wissen, dass ewiges Wachstum ins Verderben führt; aber alle Mainstream-Ökonomen predigen genau ewiges Wachstum. Genauso gut weiss man, dass die heutige Wirtschaft überhaupt nicht mit stagnierender oder schrumpfender Bevölkerung umgehen kann. WARUM werden nicht endlich (global) Modelle entwickelt, wie man diesen Bremsvorgang eben sanft und verträglich gestalten könnte, statt auf den grossen Knall zu warten?
Siegfried Weichlein: Genau. Bei «grossen Lösungen» wäre ich eher vorsichtig. Die nötigen Veränderungen geschehen eher allmählich, wenn sie sozialverträglich sind. Das betont: Armin Nassehi, Kritik der grossen Geste: anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken, Originalausgabe, München 2024.
Werden die Massnahmen der Politik, wie die Aufhebung der 1-Kind-Poltik zu neu 3 Kindern in China oder sogenanntes Verbot von «Childfree» in Russland, einen Einfluss auf die Bevölkerungsentwicklung der jeweiligen Länder haben und ihr Ziel erreichen (die negativen Auswirkungen der Bevölkerungsabnahme zu umgehen)? Könnten solche Massnahmen vermehrt auftreten und so «Anreize» geschaffen werden, um wieder mehr Kinder zu bekommen?
Kenneth Harttgen: Es gibt sehr viele Länder die versuchen mittels politischen Massnahmen (autoritär und auch freiwillig) die Geburtenrate zu erhöhen. Neue Studien zeigen allerdings, dass der Effekt bislang nicht sonderlich gross ist, um die Geburtenrate signifikant zu erhöhen.
Die Geburtenrate ist weltweit rückgängig. Trotz zahlreichen Bemühungen hat es noch kein Land geschafft die Geburtenrate auf über 2.01 Kinder pro Frau zu steigern. Was braucht es, damit diese wieder auf ein nachhaltiges Level erhöht werden könnte?
Kenneth Harttgen: Tatsächlich sind viele Politiken, die Familien mit Kindern fördern bislang nicht in der Lage gewesen, die Geburtenraten in Ländern mit sehr geringen Geburtenraten deutlich zu erhöhen. Neben den direkten Kosten für Kinder spielen eben auch die indirekten Kosten (also z.B. der Zeitverlust, um andere Sachen zu tun) eine Rolle. D.h., letztlich geht es auch Präferenzen. Ausserdem können soziale Normen eine Rolle dabei spielen, wieder mehr Kinder haben zu wollen.
Wie beurteilen Sie die Perspektiven für die Menschheit in Bezug auf Krieg und internationale Konflikte? Glauben Sie, dass wir in der Zukunft eine Sensibilisierung für die gravierenden Menschenrechtsverletzungen, wie Kinderarbeit und Genozide, erreichen können? In welchem Masse halten Sie es für möglich, dass wir politische Autonomie gewinnen, oder sind wir in der Abhängigkeit von globalen Machtstrukturen gefangen? Welche Rolle spielen Ihrer Ansicht nach genetische oder evolutionäre Faktoren in diesem Kontext?
Siegfried Weichlein: Ich würde hier weder von einem Katastrophenszenario noch von einer sicheren Lösung ausgehen. Die Machtstrukturen sind zwar hierarchisch, aber vernetzt und es bestehen Abhängigkeiten, besonders ausgeprägt im Energiesektor und im Finanzsektor. Einseitiges Handeln ist unter diesen Bedingungen sehr schwer. Helen Thompson analysiert das sehr präzise in: Helen Thompson, Disorder: hard times in the 21st century, First edition Aufl., Oxford, United Kingdom ; New York, NY 2022.
Ü-70 mögen sich noch erinnern an eine Schweiz mit viereinhalb Mio Einwohner. Da war eindeutig mehr Freiraum und Biodiversität. Wenn wir Techniken wie Robotik, KI, etc. weiter vorantreiben, dürften sinkende Geburtenraten keine Bedrohung für die Menschheit sein, sondern eher bessere Lebensqualität. Neue Techniken werden die Arbeit vieler Menschen ersetzen und so allen ein gutes Leben ermöglichen. Was meinen sie dazu?
Kenneth Harttgen: Neue Techniken könnten in der Tat die Nachfrage nach Arbeitskräften in vielen Branchen reduzieren und dazu beitragen unseren Wohlstand aufrechtzuerhalten. Die Frage, die bleibt, ist, ob es bei einer schrumpfenden Gesellschaft genug Innovationskraft gibt, um genau diese Fortschritte voranzutreiben.
Aus welchen Gründen sinkt die Tendenz zur Geburtenrate?
Marcel Zwahlen: Gründe für die sinkenden Geburtenraten: 1) Früher (in armen Ländern immer noch) starb etwa eines von 10 Neugeborenen im ersten Lebensjahr, daher hatten die Familien eher mehr Kinder, damit die auch «erwachsen» und «arbeitsfähig» werden. 2) Frauen haben bei besserem Zugang zu Schule/Bildung bessere Möglichkeiten, ungewollte Schwangerschaften zu verhindern, was eigentlich ja gut ist. 3) In wirtschaftlichen Krisenzeiten (wie Kriegssituationen) gibt es auch weniger Geburten 4) Wenn – wie in reicheren westlichen Ländern – fast alle berufstätig sind, ist es wichtig, dass Kinder gut «extern» betreut werden können. Wenn das fehlt, sinkt – langsam über Jahre – die Geburtenrate.