Die Flüchtlingskrise schlägt nun auch das Bundeshaus in seinen Bann. Einen ganzen Tag lang diskutierten die Parlamentarier am Mittwoch über die Asylpolitik. Die Grünen und Linken forderten – vergeblich – die Wiedereinführung des Botschaftsasyls, die SVP – vergeblich – ein Asylmoratorium.
Die Sieger der Debatte sind CVP und FDP, welche die Forderungen beider Seiten beerdigten. Nur: Im Wahlkampf lassen die beiden Traditionsparteien die Flüchtlingskrise links liegen. Und dies, obwohl das Thema die Stimmbürger beschäftigt.
Bargeldverbot und Arbeitspflicht
Den Politologen Georg Lutz überrascht diese Zurückhaltung nicht. «FDP und CVP können nicht gewinnen, wenn sie über Flüchtlinge reden», sagt er. «Das Thema Migration ist bereits von der SVP besetzt.» Von einer Flüchtlingsdebatte würde deshalb lediglich die Rechtspartei profitieren. «Dazu kommt: CVP und FDP würden sich unglaubwürdig machen, wenn sie sich plötzlich für Flüchtlinge einsetzten.» Beide Parteien hätten vor kurzem erst vorgeschlagen, die Schraube im Asylsystem weiter anzuziehen.
Tatsächlich hatte die FDP im Juni gefordert, in der Nähe von Krisenländern Lager zu errichten, um Asylbewerber dorthin abzuschieben. Die CVP wiederum machte sich Anfang August für ein Bargeldverbot für Asylbewerber stark und forderte eine Arbeitspflicht. Die beiden bürgerlichen Parteien könnten eine Kehrtwende in der Flüchtlingsfrage also nicht glaubwürdig vertreten.
Die SP bleibt still
Doch selbst bei den anderen Parteien sind die Flüchtlinge kaum ein Thema. So sieht auch die SP davon ab, das Flüchtlingsdrama in ihrer Kampagne anzusprechen. Der Grund: «Wir wollen nicht Wahlkampf und Polemik auf dem Rücken von Flüchtlingen betreiben», sagte SP-Präsident Christian Levrat im «Blick».
Etwas prononcierter äussern sich die Grünen. Bereits im Januar hatte Fraktionschef Balthasar Glättli die Aufnahme von 100‘000 Syrern gefordert. Zudem lancierte die Partei unter dem Namen «Schutz statt Hetze» eine Online-Kampagne, um der «Anti-Asyl-Kampagne» der SVP etwas entgegenzusetzen. Helfen dürfte den Grünen das bei den Wahlen aber kaum, schätzt Politologe Lutz: «Die Wähler identifizieren die Partei vor allem mit der Umwelt. Flüchtlinge bringen den Grünen keine Stimmen.» So hatten die Grünen laut Lutz immer dann Erfolg, wenn Umwelt-Themen Konjunktur hatten. Dies sei heute aber nicht der Fall.
Bleibt die SVP. Sie hatte den Wahlkampf lanciert, indem sie ein vermeintliches «Asylchaos» anprangerte. «Die Tatsache, dass ein solches Chaos in der Schweiz ausgeblieben ist, sowie die Solidaritätswelle für die Flüchtlinge, haben der SVP etwas den Wind aus den Segeln genommen», sagt Lutz. Im Vergleich zu anderen Jahren komme die aktuelle Wahlkampagne der Partei mitunter deshalb relativ harmlos daher.
Über die AHV will niemand reden
Fazit: Die Flüchtlinge zum Wahlkampfthema zu machen, ist für viele Parteien ein No-Go. Doch selbst Themen wie die Beziehungen zur EU oder die AHV-Reform spielen kaum eine Rolle im Wahlkampf – von der rituellen Beschwörung des bilateralen Wegs einmal abgesehen. Warum die Parteien auf ihren Plakaten stattdessen unverbindlich «Fortschritt» fordern, wie das die FDP tut, kann auch Politologe Georg Lutz nicht ganz verstehen. «Mit solchen Schlagworten holt man niemand hinter dem Ofen hervor.»
Vielmehr müssten die Parteien in einem Wahlkampf doch die grössten Probleme im Land benennen und dazu Lösungen vorschlagen, findet Lutz. «Doch die Parteien haben eben Angst vor unpopulären Botschaften.» Als Beispiel führt er den früheren FDP-Bundesrat Pascal Couchepin an, der im Wahljahr 2003 die Einführung des Rentenalters 67 gefordert hatte. «Das war für die FDP ein Desaster.» Zudem sei es schwierig, komplexe Themen auf Plakat-Stichworte zu reduzieren.
Keine Fehler: Auftrag erfüllt
Dazu dominiere in der Politwerbung das Credo, in erster Linie keine Fehler zu machen, fügt Lutz an. Gemäss dieser Logik müssten die Kandidaten vor allem sicherstellen, dass sich der Bürger an ihr Plakat erinnert, wenn er seinen Wahlzettel ausfüllt.
Eine zusätzliche Erklärung für den relativ inhaltsleeren Wahlkampf hat Politologe Andreas Ladner. «Er ist das Resultat des politischen Systems der Schweiz.» In anderen Ländern versprächen die Parteien den Wählern, diese oder jene Politik umzusetzen, wenn sie an die Macht kämen. «Doch hierzulande gibt es kein System von Regierung und Opposition.» Das mache es für die Parteien sehr viel schwieriger, grossartige Versprechen abzugeben. «Das gilt umso mehr für die Mitte-Parteien, die eine breite Wählerschaft vertreten und möglichst niemanden vor den Kopf stossen wollen.»