«Anständig sein hat auch mit Respekt gegenüber sich selber zu tun», sagt Andrin, angehender Koch. Klassenkollegen nicken. Sie diskutieren an diesem Nachmittag zusammen mit der Lehrerin und Knigge-Expertin Michèle Ségouin, welche Anstandsregeln sie sinnvoll finden. Zusammen kommt ein Sammelsurium von Verhaltensregeln: keine Mütze tragen beim Essen, Handy nicht auf den Tisch legen, nicht mit vollem Mund sprechen, einander zuhören, nicht ins Wort fallen, nicht schimpfen.
Manieren: Thema mit Tiefgang
An der Diskussion zeigt sich: Es geht um mehr als Oberflächlichkeiten. Es geht um das gute Miteinander, um moralische Normen wie Respekt, die ausgedrückt werden über Verhaltensweisen. «Das Thema Manieren kommt bei Jugendlichen an, sobald sie darin die Sinnhaftigkeit sehen», so Ségouin.
Knigge als Schulstoff
Auch Patrick Bussmann von der Outplacement-Firma von Rundstedt sieht in guten Manieren weit mehr als Oberflächlichkeiten. Er spricht von Softskills, die im Berufsleben eine wichtige Rolle spielen. «Die Softskills können im Bewerbungsprozess einen Unterschied machen», sagt er. So könne jemand, der genau zuhöre, Empathie zeigen, Wertschätzung ausdrücken und zugleich besser auf sein Gegenüber eingehen. Allerdings seien Manieren in den Feinheiten auch kontextabhängig. Die Unternehmenskultur spiele eine Rolle.
Darum gebe es kaum generelle Empfehlungen, wie man sich an Weihnachtsfeiern und Geschäftsanlässen konkret verhalten soll. Einen Ratschlag hat er dennoch: «Das Weihnachtsessen ist ein guter Moment, um zu reflektieren, wie man mit Arbeitskollegen umgehen möchte und wie viel Privates man von sich preisgeben will.»
Wer ungeschriebene Gesetze kennt, kommt besser an
Die Ratgeberliteratur suggeriert, dass Tischmanieren und weitere Anstandsregeln ab gewissen Karrierestufen wichtiger sind als in tieferen. Das mag sein. Soziologen sprechen von Statusnormen. «Wenn ich die ungeschriebenen Gesetze von gewissen Gruppen gut beherrsche, kann ich mich besser verkaufen und komme in der Gruppe besser an. Das erleichtert den beruflichen Aufstieg», so Soziologin Katja Rost von der Universität Zürich.
Doch soziale Normen gibt es in allen Gruppen. Aus soziologischer Sicht sind diese gemeinsamen Verhaltensweisen Ausdruck von Gruppengrenzen. Jeder, der zu Gruppe gehören will, muss sich gruppenkonform benehmen. Gut veranschaulichen lässt sich dies in Jugendgruppen, die sich über Sprache oder Kleidung abgrenzen von Erwachsenen. Im Geschäftsleben ist es nicht anders. Auch hier gilt: Normbruch wird sanktioniert, sei es in Form von Lästern über die Person, Ausschluss oder gar der Kündigung.
Das tönt, als würden die sozialen Normen nur ausschliessen. Doch sie integrieren auch. «Soziale Normen haben eine wichtige Koordinationsfunktion», so Katja Rost. Sie stellen beispielsweise sicher, dass alle zum Gruppenkonsens beitragen. Sie geben Sicherheit und entlasten die einzelnen von vielen Entscheidungen, die sie sonst alleine treffen müssen. Was anziehen zum Bewerbungsgespräch in einer Bank zum Beispiel? Wie sich verhalten an einem informellen Anlass wie dem Weihnachtsessen? Der Blick auf die anderen, damit auch Gruppennormen, liefert Antworten.