Der graue Bart verrät sein Alter. Hans-Ulrich Siegenthaler ist 56-jährig. Der studierte Maschinen- und Kunststoff-Ingenieur ist Experte für Verfahren zur Herstellung verschiedenster Materialien: Kunststoffe, Pharmaprodukte, Lebensmittel. Er machte Karriere in einem Industrie-Unternehmen, arbeitete sich hinauf bis in die Geschäftsleitung.
«Ein Schock»
Er war verantwortlich für das Innovations-Management. Aber weil man sich über die Unternehmensstrategie nicht einig war, musste er gehen. «Ein Schock für mich, meine Ehefrau und unsere vier Kinder», sagt er. Er meldete sich beim Arbeitsvermittlungszentrum RAV an, um eine neue Anstellung zu finden. Er dachte nicht daran, sich selbständig zu machen.
Erst als frühere Kunden sagten, er solle sie wissen lassen, wohin er gehe, denn sie könnten sich vorstellen, auch in Zukunft mit ihm zusammenzuarbeiten. «Da merkte ich: Das könnte doch ein Geschäftsmodell sein.» So wagte Siegenthaler vor sechs Jahren den Schritt in die Selbstständigkeit als Entwickler von Anlagen und Produktionsverfahren und Berater – in seinem angestammten Metier also, um sein Wissen und seine Erfahrungen weiterzugeben.
Siegenthaler ist kein Einzelfall. Immer häufiger machen sich ältere Berufstätige als Beraterin oder Berater selbständig, wie eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) zeigt. Demnach ist bereits jeder vierte Firmengründer, jede vierte Firmengründerin älter als 50.
Ohne Kredite
Zuerst brauchte Siegenthaler Geld zur Überbrückung, bis die ersten Aufträge kamen. Dank eines Erbvorbezugs konnte er die Startphase finanzieren, mit einem kleinen, sechsstelligen Betrag. So musste er sein Pensionskassenkapital nicht antasten und brauchte keine Bankkredite.
Acht Monate Zeit gab er sich, dann sollte er genügend Aufträge haben, um aus eigener Kraft überleben zu können. Die Rechnung ist aufgegangen. Vor allem dank seines grossen Beziehungsnetzes, das er sich in den Jahrzehnten davor aufgebaut hatte – ein Vorteil, den Senior Entrepreneurs gegenüber jungen Gründerinnen und Gründern haben.
Allein zuhause
Anfänglich arbeitete Siegenthaler von zuhause aus. «Das war eine grosse Herausforderung, allein zu sein, ohne Kollegen, um sich auszutauschen. Das war ein schwieriger Start.» Schon bald fiel ihm die Decke auf den Kopf, und er half mit, in Aarau einen Co-Working-Space aufzubauen.
In dem hat er heute sein Büro eingerichtet – neben 40 anderen Leuten verschiedensten Alters, aus verschiedensten Branchen. «Leute, mit denen ich Ideen entwickeln, von denen ich lernen kann», sagt er.
Digitale Defizite
Als Senior Entrepreneur bringt er zwar viel Wissen und Erfahrung mit. Aber als Selbständiger sind teils neue Fähigkeiten gefragt; etwa, wenn man selber neue Kunden akquirieren oder sich mit IT-Fragen herumschlagen muss. Hier haben manche Ü50-Jungunternehmer Defizite, die ihnen die Arbeit erschweren, wie die FHNW-Studie bestätigt.
Abstriche gibt es beim Lohn. Siegenthaler verdient heute knapp 80 Prozent seines früheren Lohns als Geschäftsleitungsmitglied. Und er muss rund um die Uhr erreichbar sein, um keinen Auftrag zu verpassen: «Am Wochenende, in den Ferien: Ich schalte das Telefon nie mehr aus.»
Dennoch bereut er den Schritt in die Selbstständigkeit nicht, denn er habe ihm auch Freiheiten gebracht. «Ich kann Kunden und Aufträge aussuchen. Manchmal arbeite ich zehn Tage an einem Projekt. Dann unternehme ich aber auch einmal mitten in der Woche eine Skitour.»
Freiheit statt Sicherheit
Ihm fehle manchmal die Sicherheit, die er als Angestellter gehabt habe, räumt Siegenthaler ein. Das musste er während der Corona-Pandemie erfahren. Die allermeisten Aufträge erhält er aus dem Ausland, er reist zu Kunden rund um den Globus. Doch von einem Tag auf den anderen war das nicht mehr möglich, das Geschäft brach vorübergehend ein.
Er lässt sich aber nicht beirren. «Ich habe Ausdauer», sagt der Marathon-Läufer. «Und ich bin motiviert – auch, weil ich nicht für irgendwelche Aktionäre arbeiten muss, sondern für mich und meine Familie.»