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Flexible Jobs ohne Sicherheit? «Auch diese Leute müssen anständig versichert sein»

Arbeit auf Abruf, projektbezogene Arbeit – flexible Beschäftigungsformen sind für viele attraktiv. Wenn die Aufträge aber plötzlich wegbrechen, fallen diese Menschen «zwischen Stuhl und Bank», wie Politphilosophin Katja Gentinetta sagt.

Im Interview plädiert sie dafür, diese Arbeitsformen ebenso zu versichern wie Festanstellungen – dies komme der gesamten Gesellschaft zugute.

Katja Gentinetta

Politphilosophin

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Die promovierte Politphilosophin ist unter anderem als Publizistin und Dozentin tätig. Sie moderiert die Talksendung «NZZ Standpunkte» und lehrt an verschiedenen Schweizer Universitäten. Von 2011 bis 2014 moderierte sie die Sendung «Sternstunde Philosophie» auf SRF.

SRF: Wir haben ein ausgebautes Sozialsystem für jene, die ihre Arbeit verlieren. Aber es gibt neue Arbeitsformen, etwa Plattform-Ökonomie oder projektbezogenes Arbeiten. Sind diese Personen besonders gefährdet?

Katja Gentinetta: Sie sind deutlich mehr gefährdet. Im Arbeitsrecht unterscheiden wir primär zwischen zwei Kategorien: Angestellten mit Arbeitsvertrag und Arbeitgeber. Und es ist klar festgelegt, wer welchen Anteil in die Sozialversicherung bezahlt.

Auf der anderen Seite haben wir die Selbständigen. Für sie ist es zum Teil auch klar. Aber alle Zwischenformen fallen buchstäblich zwischen Stuhl und Bank.

Diese Zwischenformen sind ja sehr populär geworden. Viele junge Leute finden es cool, so zu arbeiten. Wie könnte man sie besser absichern?

Man muss von dieser Zweiteilung «angestellt» oder «selbständig» wegkommen. Man muss sich überlegen: Wollen wir Arbeit versichern? Wollen wir den Leuten, die arbeiten, eine Sicherheit geben? Das ist wichtig. Das müssen wir als freie Gesellschaft tun.

Denn wir wollen ja, dass diese Leute für sich selbst sorgen können. Und wir wollen, dass sie nicht abhängig werden – weder von einem Arbeitgeber noch vom Staat.

Plattform-Arbeiter und Freelancer

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Laut einer aktuellen Erhebung des Bundesamts für Statistik (BFS) 2019 geben nur 0.4 Prozent der Bevölkerung an, in den letzten 12 Monaten internetbasierte Plattformarbeit geleistet zu haben.

Prekäre Arbeitsbedingungen betreffen allerdings deutlich mehr Menschen: jene, die «auf Zuruf» arbeiten, die projektbezogen zum Einsatz kommen. Sie sind weder angestellt noch komplett selbständig.

2018 gaben laut dem Beratungsunternehmen Deloitte 25 Prozent aller Berufstätigen in der Schweiz an, haupt- oder nebenberuflich einer Freelance-Tätigkeit nachzugehen.

Das heisst auch, Plattform-«Arbeitgeber» – die sich natürlich nicht so nennen, wie beispielsweise Uber – müssen ihre Leute versichern. Und das machen sie jetzt nicht.

Wie könnte man das durchsetzen? Die Wirtschaft hat kaum ein Interesse daran. Denn diese Leute sind günstiger, weil weniger Sozialkosten entstehen. Diese Kosten sind ausgelagert.

Ich bin der festen Meinung, dass der Staat eingreifen muss. Denn solche Unternehmen sind auch Teil unserer Gesellschaft.

Wir als Allgemeinheit müssen diese Leute auffangen.

Wenn die «Partner» dieser Unternehmen, wie sie genannt werden, weil sie nicht angestellt sind, in eine prekäre Situation kommen, dann müssen wir sie als Allgemeinheit auffangen.

Wir müssen als Staat und als Gesellschaft ein Interesse haben, dass auch diese Leute anständig versichert sind. Natürlich muss man noch dieses und jenes überlegen – etwa, ab welcher Schwelle versichert werden muss. Aber es muss unbedingt getan werden.

Die Plattformen sagen: Das sind alles Selbständige, diese versichern wir nicht.

Das Argument stimmt eben nicht ganz. Es stimmt vielleicht für Studenten, die das nebenbei machen und sich ein kleines Taschengeld hinzuverdienen. Das kann man selbständig nennen, und man muss es nicht zu stark regulieren. Doch es sollte auch irgendwie versichert sein.

Diese Art der Arbeit wird weitergehen.

Aber wenn wir von Fällen hören, in denen ein Vater 50 Stunden pro Woche für diese Plattformen arbeitet und irgendwann einmal auf die Strasse gestellt wird ohne Versicherung – das ist nicht akzeptabel.

Wird es nun einen gewissen Stopp in dieser Plattform-Ökonomie geben, weil sich viele sagen: Ich möchte lieber eine feste Arbeitsstelle haben, als selbständig zu sein und dann in die Krise zu geraten?

Die feste Stelle ist für viele noch das Ideal, denn sie gibt Sicherheit. Auf der anderen Seite wollen viele Leute auch Freiheit und sind bereit, dafür ein gewisses Risiko zu tragen.

Ich glaube, dass diese Art der Arbeit weitergeht. Aber ich kann mir auch vorstellen, dass nach dieser Krise die Politik eingreifen wird und dass man sich wird finden müssen.

Das Interview führte Reto Lipp.

ECO, 18.05.2020, 22.25 Uhr ; 

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