SRF News: Vor hundert Jahren schränkte Europa den Freihandel ein. Was genau geschah?
Kevin O'Rourke: Europa verabschiedete sich damals von der liberalen Handelspolitik, die es rund 60 Jahre lang betrieben hatte. In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg bewegte es sich in Richtung Protektionismus.
Protektionismus mag zwar für diejenigen gut gewesen sein, die mit der Globalisierung noch mehr verloren hätten. Doch er nährte internationale Spannungen und liess Menschen daran zweifeln, ob der Markt sie mit dem versorgen könne, was sie benötigen. All diese Sorgen und Spannungen manifestierten sich in der Zwischenkriegszeit.
Was waren die Folgen des Protektionismus?
Länder begannen sich ernsthaft zu sorgen, ob sie sich auf die internationalen Märkte verlassen können, um die Bevölkerung ausreichend mit Nahrungsmitteln und ihre Industrie mit den notwendigen Rohstoffen zu versorgen.
Wenn man auf dem Markt nicht erhält, was man benötigt, ist die Versuchung gross, sich die Güter gewaltsam zu nehmen. Das haben die Japaner in Ost-Asien gemacht und – bis zu einem gewissen Grad – auch Hitler in Ost-Europa.
Was ist heute anders?
Es geht nicht mehr um günstige Landflächen in Amerika, Australien oder Argentinien wie vor 100 Jahren.
Heute herrscht ein Konkurrenzkampf mit einem riesigen Angebot an billigen Arbeitskräften in Asien und anderswo. Die Menschen, die heute in Europa darunter leiden, sind nicht reiche Grundeigentümer oder französische Bauern, sondern ungelernte Arbeiter.
Heute leiden vor allem ungelernte Arbeiter unter der Globalisierung.
Was ist gleich geblieben?
Auch heute verlieren Verlierer nicht gerne. In Demokratien sorgen sie dafür, dass ihre Stimme gehört wird. Sie erzwingen politische Massnahmen, die sie schützen. Im 19. Jahrhundert waren es Grundeigentümer, die Zollschutz durchsetzten und den Schritt zurück zu Protektion machten.
Heute sieht man einen ähnlichen Reflex. Ungelernte Arbeiter verlangen Schutz – nur sind sie weniger einflussreich als die damaligen Grundeigentümer. Und deshalb hat es viel länger gedauert, bis sie sich Gehör verschaffen konnten.
Welche Lehren lassen sich aus den Erfahrungen des 19. Jahrhunderts für heute ziehen?
Das 19. Jahrhundert bietet Anschauungsunterricht über die Politik von Freihandel und Protektionismus. Heute wachsen Volkswirtschaften im Süden, weil sie zu uns, in die reichen Länder exportieren können.
Wer nur ein wenig kosmopolitisch ist und sich ethisch verhält, stimmt dem zu. Wir wollen, dass sich Asien und Afrika aus der Armut befreien. Offene Märkte der reichen Länder tragen zu dieser Entwicklung bei. Das wollen wir beibehalten.
Aber gleichzeitig ist klar:Wenn wir nicht für die Verlierer sorgen, bleiben die Märkte nicht offen. Das ist die grosse Lektion, die uns das 19. Jahrhundert erteilt.
Konkreter?
Globalisierung nützt allen, aber sie ist riskant. Sie erschüttert Teile der Bevölkerung. Deshalb braucht es den Staat, um das abzufedern.
Globalisierung nützt allen, aber sie ist riskant.
Aber in den 1990er und 2000er Jahren haben diese Davos-Männer und -Frauen am WEF gesagt, okay, wir haben Globalisierung und den Markt, wunderbar. Gleichzeitig schwächen wir die inländischen Institutionen, weil wir uns den Staat nicht mehr leisten können – aus verschiedenen fadenscheinigen Gründen.
Natürlich können wir uns den Staat leisten! Wir sind reicher denn je! Wir können uns Dinge leisten, die wir uns früher nicht leisten konnten. Aber Politiker und Wirtschaftsführer gingen zu weit, viel zu weit. Zu viel Markt, zu wenig Staat – irgendwann kippt das politische Gleichgewicht.
Das Gespräch führte Liz Horowitz