Sebastian Kurz hat mit 35 Jahren schon viel hinter sich. Er war Aussenminister und von 2017 bis 2021 – mit Unterbruch – der jüngste Bundeskanzler Österreichs. Nun ist er in der Privatwirtschaft tätig. Noch immer beschäftigt ihn aber die geopolitische Lage, wie er in einem Interview am Swiss Economic Forum in Interlaken beweist.
SRF: Man spricht angesichts des Kriegs in Europa von einer Epochenwende. Österreich liegt geografisch nahe an der Ukraine. Was würden Sie tun, wären Sie noch Bundeskanzler?
Sebastian Kurz: Was-wäre-wenn-Fragen beantworte ich nicht. Aber die wirkliche Herausforderung ist, dass viele Krisen gleichzeitig stattfinden. Wir haben nach wie vor die Pandemie mit Lockdown, mit der Gefahr, dass das Virus im Herbst wieder stärker zuschlägt. Darüber hinaus gibt es eine massive Teuerung und den Krieg in der Ukraine. Vielleicht haben wir in gewissen Teilen der Welt bald sogar eine Nahrungsmittelknappheit, die zu unheimlichem Leid führen könnte.
Überfordert diese Gleichzeitigkeit von Krisen die Politik?
Nein. Für einen positiven Impuls sollte man aber in einem Bereich vorankommen. Bei der Inflation besteht die Chance, dass man nach einer Zinserhöhung die Dinge positiv sieht – nämlich, dass sich die starke Inflation wieder ein Stück weit beruhigt. Was die Ukraine-Krise betrifft, gab es für die EU keine Alternative, als entschlossen auf diesen aggressiven Angriffskrieg der Russen zu reagieren. Die gute Nachricht ist vielleicht, dass Kriege immer mit Verhandlungen enden. Und insofern habe ich doch ein Stück weit Hoffnung in den Istanbuler Friedensprozess, dass es vielleicht zu einer friedlichen Lösung kommt.
War der Westen zu blauäugig in Bezug auf Putin? Auch in Österreich gibt es viele Leute, die Putin nahe waren oder vor dem Krieg viel Verständnis für ihn gehabt haben.
Blauäugig war niemand. Die Frage ist, welcher Zugang der richtige ist. Es gab schon 2014 eine massive russische Aggression gegenüber der Ukraine. Ich war damals Aussenminister und habe die Ostukraine auch besucht.
Die Ukraine beklagt sich, dass damals nichts Wesentliches passiert ist, und dass die heutige Situation die Folge dieses Nichtstun der Politik von 2014 ist.
Dazu gibt es unterschiedliche Thesen. Hätte die EU früher härter reagiert, hätte das vielleicht etwas gebracht. Vielleicht hätte es aber zu einer noch früheren Eskalation geführt. Im Nachhinein zu beantworten, was wäre gewesen, wenn – das kann niemand. Es gibt zwar einige, die so tun, als hätten sie das alles kommen sehen. Ich war in all diesen Jahren als Aussenminister und Regierungschef an vielen Verhandlungen dabei. Ich hab niemanden getroffen, der diese Aggression der russischen Führung gegenüber der Ukraine vorausgesehen hat.
Viele Menschen, auch unser Gast gestern – die Osteuropakennerin Anne Applebaum – sagen, es gäbe nur eines: Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen. Was sagen Sie?
Es gibt unterschiedliche Zugänge: Die russische Seite hat sicher die Wehrhaftigkeit der Ukrainer unterschätzt. Der Plan, den es anscheinend von Präsident Putin gegeben hat, ist so nicht aufgegangen. Aber es sterben täglich viel zu viele Menschen. Dieser Krieg hat zu einem unglaublichen Leid in der Ukraine geführt. Aus meiner Sicht wäre eine friedliche Lösung dieses Konflikts absolut wünschenswert. Zumindest ein Waffenstillstand wäre ein Schritt nach vorne, in Richtung weniger Blutvergiessen. Das sollte das Ziel sein.
Das Gespräch führte Reto Lipp.