Die Goldenen 1920er-Jahre waren geprägt von einer Aufbruchstimmung. Der Erste Weltkrieg war vorbei, die Spanische Grippe mit Millionen Toten ebenso. Hundert Jahre später stehen die Chancen gut, dass die Pandemie besiegt werden kann. Steht uns ein blühendes Jahrzehnt bevor? Ein Wirtschaftshistoriker hat seine Zweifel.
SRF News: Kommt mit dem Ende der Pandemie der grosse wirtschaftliche und gesellschaftlichen Aufschwung?
Hans-Joachim Voth: Eher nicht. Es gibt zwar viel aufgespartes Geld und ein aufgestautes Konsumbedürfnis. Dieses wird sich sicher in den nächsten sechs bis zwölf Monaten entladen, nachdem das Schlimmste der Pandemie vorbei ist. Ich wage aber zu bezweifeln, dass das zu einem breiten und lange andauernden Wirtschaftsaufschwung führt, wie ihn die Produktivitätsentwicklung im letzten Jahrhundert ermöglicht hat.
Die «Roaring Twenties» werden oft verklärt. Wer profitierte von der Zwischenkriegszeit – vor allem die Elite?
Die Elite hat natürlich profitiert. Viele sind reich geworden, vor allem mit den gestiegenen Aktien. Die meisten haben die Aktien behalten und alle Papiergewinne in der Weltwirtschaftskrise wieder verloren. Aber auch andere Gruppen haben ihre Lage verbessert: Ein Grund ist die Einführung der Acht-Stunden-Woche in vielen Ländern. Vielerorts wurden zudem die Gewerkschaften anerkannt. Die Arbeitsbedingungen wurden deutlich besser. Die Lohnquote stieg überall. Ganz in Gegensatz zu dem, was wir in den letzten 15 Jahren in den meisten OECD-Ländern gesehen haben.
Könnte man gewisse Parallelen zwischen damals und den Neuerungen im Arbeitsleben mit dem Homeoffice ziehen?
Zweifellos gibt es Neuerungen. Die Einführung der Fliessbandproduktion in den Zwanzigern war vielleicht ein Umbruch ähnlich dem Homeoffice, in dem Sinne, dass die Arbeit ganz anders organisiert wird. Mit ganz spezifischen Eigenheiten, die für manche Leute besonders gut sind und für andere eher herausfordernd. Ob das Homeoffice ein Riesenvorteil für die Bevölkerung ist, wage ich zu bezweifeln. Der Acht-Stunden-Tag bei gleichem Lohn war es.
Auf die «Goldenen Zwanziger» folgten in Deutschland das Ende der Weimarer Republik und der Aufstieg der Nationalsozialisten – es gab viele Verlierer. Wer werden in der jetzigen Pandemie die Verlierer sein?
Das weiss man noch nicht genau. Es ist aber ziemlich klar, dass der technische Fortschritt, auch wenn er für die Produktivität gar nicht so viel bringt, in den letzten 15 Jahren viele Leute stark abgehängt hat. So gab es eine ganze Reihe von Bürojobs, die nun von Computern übernommen werden. Ob diese Leute alle eine neue Tätigkeit finden werden, ist offen.
In den Zwanzigern zerstörte zudem nicht der technische Fortschritt die Stellen, obwohl er relativ stark war. Es war der enorme Wirtschaftseinbruch, der die Nachfrage einbrechen liess und in einigen Ländern zu Diskontinuitäten führte. Nicht nur zum Schlechten, wenn man etwa an den New Deal in den USA denkt. Er schuf die Basis des amerikanischen Wohlfahrtsstaats und einen sozialen Konsens, der dem Land für 100 Jahre sehr gut bekommen ist.
Wäre es an der Zeit für einen neuen New Deal mit Wirtschafts- und Sozialreformen wie zwischen 1933 und 1938?
Vielleicht. Für diverse Länder wäre ein neuer New Deal mit mehr sozialen Rechten eine gute Idee. Ob das in Europa der richtige Ansatz ist, darüber lässt sich streiten. Da gibt es auch Bremsspuren bei dem, was wir in den letzten 100 Jahren an immer neuen Dimensionen des Sozialstaats draufgelegt haben.
Das Gespräch führte Nicoletta Cimmino.