«Ich habe Schlafprobleme.» Das sagt in der Schweiz jede und jeder Dritte von sich. Arbeitspsychologe Theo Wehner nennt die Folgen von Schlafmangel «katastrophal»: «Die Fehlerrate steigt. Die Risikobereitschaft nimmt zu. Und was mich am meisten überrascht hat: Unethisches Verhalten nimmt durch Schlafdefizite zu.»
Wer nur eine Woche lang täglich zu wenig schlafe, sei am Ende der Woche in einem Zustand, der vergleichbar sei mit jenem von einem Promille Alkohol.
Theo Wehner sagt: «Im heroischen Management und auch bei heroischen Politikern hören wir immer wieder: In den frühen Morgenstunden wurde jener Entscheid gefällt oder jene Vereinbarung getroffen. Alle ein Stück alkoholisiert, könnte man sagen.»
Auch in der Schweiz gibt es eine Reihe von Managern und Politikern, die in der Öffentlichkeit sagen, sie schliefen pro Nacht nur drei, vier oder fünf Stunden: etwa der ehemalige Credit-Suisse-CEO Brady Dougan, Nationalrätin Jacqueline Badran, FC_Sion-Präsident und Unternehmer Christian Constantin oder alt Bundesrat Christoph Blocher.
Arianna Huffington: Schwerverletzt wegen Übermüdung
Arianna Huffington ist seit Jahren eine Kämpferin für mehr Ausgeschlafenheit. Die Gründerin der Online-Zeitung Huffington Post brach sich 2007 den Wangenknochen, weil sie vor Übermüdung an ihrem Pult zusammenbrach. Mit unzähligen Auftritten und einem Buch zum Thema («The Sleep Revolution») versucht sie, die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung des Schlafs zu lenken.
In einem Interview mit Bloomberg sagt sie: «Es ist ein grosser Irrglaube, dass man erfolgreicher ist, wenn man rund um die Uhr arbeitet. Sämtliche Forschung beweist das Gegenteil.»
Die US-Denkfabrik Rand hat vor zwei Jahren analysiert, welche Kosten unausgeschlafene Angestellte verursachen.
Der Schweizer Studienleiter Marco Hafner, der für Rand im britischen Cambridge forscht, hat seine Berechnungen auf die Schweiz übertragen. Er schätzt:
- Die Schweizer Unternehmen verlieren pro Jahr bis zu 4,5 Millionen Arbeitstage.
- Der Schweizer Volkswirtschaft entgehen pro Jahr zwischen 5 und 8 Milliarden Franken.
Jemand, der weniger als 6 Stunden pro Nacht schlafe, verliere pro Jahr etwa 5 bis 10 Arbeitstage im Vergleich zu jemandem, der zwischen 7 und 9 Stunden schlafe, sagt Marco Hafner.
«Das hat zwei Gründe: Entweder, man ist mehr krank. Oder, wenn man bei der Arbeit erscheint, ist man weniger produktiv, man ist eher abgelenkt, und man hat generell Mühe, Informationen zu verarbeiten.» Zudem erhöhe Schlafmangel das Sterblichkeitsrisiko um 13 Prozent.
Arbeitspsychologe Theo Wehner empfiehlt Unternehmen, sich um den Schlaf ihrer Mitarbeiter zu kümmern, etwa durch Schlaftrainings oder die Möglichkeit des «Power Nappings».
«Als die Firmen damit anfingen, gesunde Ernährung in den Betrieb zu holen, begann das auch mit ein paar Äpfeln an der Rezeption. Heute haben wir überall gesunde Ernährung in der Kantine», sagt er. Ähnlich sei es mit sportlicher Bewegung. Zu diesen beiden Standbeinen müssten Unternehmen nun den Schlaf hinzufügen.
Sind Schlafräume ein Feigenblatt?
Eine Stichprobe von «ECO» zeigt: Konzerne in der Schweiz bieten ihren Angestellten Ruhe- und Schlafmöglichkeiten, so etwa ABB oder UBS. Allerdings bleiben die Firmen vage bei der Antwort, wie diese Räume genutzt werden.
UBS schreibt: «Sie werden regelmässig genutzt. Wir führen nicht Buch darüber.» Und ABB-Schweiz-Chef Robert Itschner sagt: «Wir haben Listen, auf denen man sich eintragen kann, aber natürlich haben wir keinen Zwang, dass man sich darauf einträgt. Wir gehen davon aus, dass wir eine einigermassen gute Nutzung haben, aber das könnte sicher noch besser sein.»
Im Gespräch betont Arbeitspsychologe Theo Wehner: Im Kampf gegen die Übermüdung brauche es einen Kulturwandel.
SRF: Herr Wehner, wenn wir Botschafterinnen wie Arianna Huffington sehen: Sind wir an einem Wendepunkt?
Theo Wehner: Sie ist ein gutes Vorbild, aber an einem Wendepunkt sind wir noch nicht. Wenn wir jemanden fragen: Was machst du, wenn du hungrig bist? Ich esse. Was machst du, wenn du durstig bist? Ich trinke. Was machst du, wenn du müde bist? Ich nehme ein Red Bull, trinke einen Kaffee, mache das Fenster auf oder einen Spaziergang.
Nur Kinder sagen noch: Dann geht man schlafen. Der Schlaf ist das beste Mittel gegen Müdigkeit.
Braucht es einen Kulturwandel?
Ja, denn heute ist die vorherrschende Kultur: Ich arbeite mittags durch, ich bringe mir meinen Kaffee schon mit, mein Sandwich habe ich auch dabei, und ein bisschen Excel-Listen durchgucken kann man doch gut dabei.
Und die, die dann schlafen gehen, müssen sich heute teilweise in Listen eintragen, um einen Platz zu finden. Und die Kollegen beobachten das, und dann fällt zum Beispiel auf: Rudi geht jeden Dienstag schlafen, denn montags hat er seinen Stammtisch. In dieser Kultur ist ein Napping am Arbeitsplatz nicht möglich.
Reclaim your sleep!
Es ist also auch unsere eigene Verantwortung?
Das glaube ich sehr deutlich. Im Wachsein sind wir alle miteinander verbunden. Im Schlaf ist jeder bei sich. Und es muss mir wichtig sein, dass ich diese Phase auch als Ich erlebe und nicht noch Tagesreste mit mir herumschleppe – schweissgebadet aufwache, weil ich an den nächsten Tag denke.
Schlaf ist auch ein Stück individuelle Anarchie. Und dazu gehört: Reclaim your sleep. Fordere deinen Schlaf wieder zurück.
Das Interview führte Reto Lipp.