Cathrin Michael ist 35 Jahre alt und seit vier Jahren selbständig als Texterin und Bloggerin.
Sie empfindet ihre Art zu arbeiten als grosse Freiheit: «Ich mache gerne Nachtschichten, arbeite gerne nachts bis morgens um zwei. Dafür gehe ich mit meiner Schwester einen Kaffee trinken, wenn die Sonne scheint. Diese Freiheit gibt mir sehr viel zurück.»
Gegen längere Arbeitsausfälle wegen Krankheit oder Unfall hat sich Cathrin Michael versichert.
Wenn es um die Altersvorsorge geht, gesteht sie ein, weniger vorausschauend zu sein: «Altersvorsorge ist ein Thema, das ich ein bisschen von mir wegschiebe. Ich bezahle seit kurzem in die 3. Säule ein. Die Pensionskasse fällt ja bei Einzelfirmen weg, das geht leider nicht. Das ist definitiv etwas, worüber ich mir mehr Gedanken machen muss.»
Wir müssen unser System der Sozialversicherungen reformieren.
Die digitalen Möglichkeiten verändern die Arbeitswelt. «Mal ist man selbständig, mal unselbständig, mal arbeitslos. Man muss sich länger weiterbilden. Vielleicht hat man mehrere Jobs gleichzeitig», erklärt Christoph Koellreuter. Er entwickelt mit seiner «Fondation CH2048» Reformideen für die Sozialpartnerschaft.
«Und wenn wir immer mehr eine solche Welt haben, dann müssen wir unser System der Sozialversicherungen reformieren. Den Unterschied zwischen Selbständigen und Unselbständigen müssen wir möglicherweise aufheben.» Denn wer nicht ausreichend versichert ist, kann im Falle eines Falles rasch in die Sozialhilfe abrutschen.
«Dringenden Handlungsbedarf» ortet auch Guy Ryder. Der Brite ist Generaldirektor der Internationalen Arbeitsorganisation ILO mit Sitz in Genf. Sie existiert seit 1919 und ist die einzige UNO-Organisation, in der Politik, Arbeitnehmer und Arbeitgeber gemeinsam vertreten sind.
Er sagt: «Einige Selbständige sind stark benachteiligt – was ihr Einkommen betrifft, ihre soziale Sicherheit und auch ihre künftige Altersvorsorge. Wir müssen uns um diesen blinden Fleck kümmern.»
Eine Arbeitswelt, in der die Menschen keinen festen Arbeitgeber mehr wünschen, stellt die Sozialpartnerschaft vor neue Herausforderungen. Sie ist ein hohes Gut in der Schweiz und hat das Land weit gebracht.
Vergangene Woche haben die Sozialpartner und Bundesrat Johann Schneider-Ammann eine so genannte «Tripartite Erklärung zur Zukunft der Arbeit und der Sozialpartnerschaft in der Schweiz im Zeitalter der Digitalisierung der Wirtschaft» in Bern unterschrieben.
Der Wirtschaftsminister sagte am Anlass im Interview mit «ECO»: «Das ist die Bestätigung, dass die Vergangenheit gut war, und dass wir mit den gleichen Werten und gleichen Methoden in neuem Zeitalter erfolgreich sein wollen. Ich bilde mir ein, dass das sehr wohl möglich ist.»
Der Bundesrat glaubt, mit Altbewährtem in die Zukunft gehen zu können. Doch die neuen Arbeitsformen sind eine fundamentale Veränderung. Freelancer verleiten Unternehmen dazu, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Und für Gewerkschaften sind diese Menschen kaum mehr erreichbar.
Dennoch sind die Sozialpartner noch weit davon entfernt, innovative Lösungen zu haben. Das zeigen die Interviews.
SRF: Was müssen Gewerkschaften machen, um Freelancer auch in Zukunft schützen zu können?
Vania Alleva: Sie sind ja nach wie vor Arbeitnehmende, und es ist wichtig, dass wir sie als Gewerkschaft erreichen, dass sie sich organisieren. Es ist umso wichtiger, weil das extrem prekäre Arbeitsbedingungen sind. Gewerkschaftliches Engagement braucht es nach wie vor.
Gelingt es Ihnen überhaupt noch, sie zu erreichen?
Im ersten Moment kümmern sich diese Freelancer nicht gross drum, aber sobald Probleme auftauchen, wird es dann zum Thema. Und ja, wir sprechen sie an, wir haben jetzt zum Beispiel auch Uber-Fahrer organisieren können, sie sich auch mobilisiert haben. Also ja, es ist eine Herausforderung, aber ich denke, wir müssen diese Herausforderung stemmen.
Müssten Sie als Gewerkschaft nicht über neue Angebote nachdenken statt über Gesamtarbeitsverträge?
Es muss über Gesamtarbeitsverträge laufen, denn das ist eine nachhaltige Form einer Regelung von Arbeitsbedingungen. Aber es ist klar: Die Arbeitgeber müssen sich auch entsprechend organisieren. Es braucht natürlich ein Gegenüber für die Gesamtarbeitsverträge, und die Herausforderung für uns als Gewerkschaft ist natürlich, die Arbeitnehmenden auch zu erreichen und zu mobilisieren.
Was fordern Sie von den Arbeitgebern?
Es ist wichtig, dass man sie immer noch als Arbeitgeber wahrnimmt. Es sind nämlich Arbeitgeber. Sie versuchen im Moment, ihre Verantwortung abzuschaufeln, indem sie die Verantwortung und das Risiko auf die Arbeitnehmenden abwälzen. Es wird entscheidend sein, dass die Arbeitgeber Sozialversicherungen bezahlen, gerechte Löhne, damit die Arbeitnehmenden auch entsprechend leben können.
Valentin Vogt, für Sie Arbeitgeber sind Freelancer eine super Situation. Sie müssen keine Verantwortung mehr übernehmen.
Valentin Vogt: Wenn man von Freiheit spricht, spricht man auch von Verantwortung. Wir Arbeitgeber haben auch eine Verantwortung, und die Verantwortung besteht darin, dass wir mithelfen, sicherzustellen, dass die Leute – wenn sie irgendwann mal mit 65/70 in Pension gehen – überhaupt eine Pension und auch eine AHV haben.
Wie wollen Sie diese Verantwortung wahrnehmen?
Das muss man von Branche zu Branche anschauen. Einen Uber-Fahrer kann man nicht vergleichen mit einem normalen Selbständigerwerbenden. Wir müssen uns auch darum kümmern, denn Wegschauen ist aus meiner Sicht keine Option.
Was machen Sie konkret?
Wir haben beim Arbeitgeberverband eine Studie gemacht und geschaut, wie könnte eine Arbeitswelt 2030/2035 aussehen. Wir sind jetzt konkret dran, genau diese Fragen zu beantworten, zu überlegen, was müssen wir jetzt konkret machen, damit die Rahmenbedingungen da sind, damit der Wandel auch stattfinden kann?
Was fordern Sie von den Gewerkschaften?
Wir müssen zusammenarbeiten. Es funktioniert nicht, einfach Extrempositionen zu fordern. Diese Veränderung hilft ja nicht nur den Arbeitgebern. Auch für den Arbeitnehmer kommen neue Freiheiten wie Home Office. Ich glaube, es braucht einfach Kompromissbereitschaft und auch lösungsorientiertes Handeln.
Die Interviews führte Andreas Kohli.