«Sie sind sehr motiviert und überdurchschnittlich neugierig, jedoch eher unorganisiert.» Das sind Persönlichkeitsmerkmale, die früher nur von Menschen beurteilt wurden. Mittlerweile versprechen auch Computer-Programme mit künstlicher Intelligenz eine zuverlässige Einschätzung von Charaktereigenschaften eines Menschen. Und diese Analysen basieren nur auf einem kurzen Bewerbungsvideo.
«Unsere Algorithmen werten verschiedene Datenpunkte aus: Die Gesichtsmimik, wie den Mund und die Augen. Zusätzlich analysiert der Computer die Stimme und wie viele Wörter der Kandidat pro Minute spricht», sagt Raphael Heraief.
Er gründete vor zwei Jahren die Software-Firma Vima als Spin-Off des Forschungsinstituts Idiap. Dieses Unternehmen aus Martigny entwickelte ein Tool zur Vorselektion von Bewerbern. Mit dem Ziel, die Arbeit von Personalvermittlern zu unterstützen.
Der Bewerber zeichnet ein kurzes Vorstellungsvideo von sich auf, ungefähr eine bis drei Minuten lang, erklärt Heraief. Anschliessend analysiert der Computer das Video und erstellt ein Profil des Kandidaten.
Die Software bewertet den Kandidaten nach Charaktereigenschaften wie Kompetenz, Teamfähigkeit und Offenheit. Das Ziel: Eine Einschätzung über die Kompetenzen und die Persönlichkeit des Bewerbers.
Hohe Fehlerquote
Ist ein Persönlichkeitsprofil anhand eines solch kurzen Videos verlässlich? Nein, sagt Sascha Frühholz, Neurowissenschaftler der Universität Zürich. Es sei zu wenig Material für den Algorithmus, um komplexe Eigenschaften einzuschätzen.
Die Softwares machen noch sehr viele Fehleinschätzungen.
«Auch haben die Softwaresysteme noch sehr viele Fehler – die können zu sehr vielen Fehleinschätzungen führen», mahnt Frühholz. Solche Fehler seien für Firmen problematisch, da das System unter Umständen gute Bewerber schon in der ersten Runde aussortiere.
Dem widerspricht der Software-Unternehmer aus Martigny jedoch. «Wir haben es geschafft, ein extrem hohes Niveau an Präzision und Verlässlichkeit zu erreichen. Aus diesem Grund haben wir unser Produkt überhaupt auf den Markt gebracht», sagt Raphael Heraief
Über 20 Experten hätten tausende Videos beurteilt . «Wir haben ein sehr transparentes und unvoreingenommenes System aufgebaut, welches sehr gut funktioniert».
Maschinen bewerten also Menschen nach vorgegebenen Kriterien. Kritiker warnen, dass so nur noch einheitliche Bewerberprofile Erfolgschancen haben. Dem sei nicht so, heisst es beim Personalvermittler Adecco, der solche künstliche Intelligenz im Bewerbungsverfahren nutzt.
«Ich würde sagen, dass durch künstliche Intelligenz auch atypische Profile eine Chance haben», sagt Konzernchef Alain Dehaze. Die Maschine wisse aufgrund ihrer Erfahrung, dass es ein Erfolg werde.
Adecco nutzt künstliche Intelligenz hauptsächlich in der Kommunikation mit Bewerbern. Die Kandidaten vereinbaren dann beispielsweise einen Bewerbungstermin mit einem sogenannten Chatbot, also ein System zur computerbasierten Kommunikation.
«So können die Bewerber auch am Wochenende mit uns in Kontakt stehen. Und die Personalvermittler konzentrieren sich ganz auf die persönlichen Treffen mit potentiellen Kandidaten», Konzernchef des Personalvermittlers.
Mensch vs. Maschine
Es stellt sich die Frage: Wird eine Maschine in Zukunft den kompletten Rekrutierungsprozess alleine vollziehen können? Sobald die Tools verlässlicher sind und Personalrekrutierer darauf vertrauen, scheint dieses Szenario nicht mehr ausgeschlossen.
Unser Tool ersetzt die Arbeit von Menschen nicht.
Dies sei nicht das Ziel der Software-Firma aus Martigny. «Unser Tool ersetzt die Arbeit von Menschen nicht. Wir sind komplementär und nur eine Hilfe für den Menschen», sagt der Firmengründer Heraief.
Auch Alain Dehaze findet den menschlichen Kontakt weiterhin sehr wichtig, denn letztlich würden zwei Menschen miteinander arbeiten müssen. Er verdeutlicht aber auch: «Wir werden mehr und mehr künstliche Intelligenz nutzen. Die Personalrekrutierung muss in Zukunft noch schneller gehen.»
Transparenz für Bewerber
Klar ist: Aus diesen Bewerbungsvideos kann das Unternehmen sehr intime Eigenschaften einer Person festhalten. Jedes Wimpernzucken und jede Mundbewegung wird vom Algorithmus genauestens unter die Lupe genommen.
Der eidgenössische Datenschützer Adrian Lobsiger fordert deshalb hohe Transparenz und Sorgfalt im Umgang mit solchen Informationen. «Daten dürfen nur in diesem Umfang bearbeitet werden, wie es für die Abklärung der Eignung nötig ist. Und sobald diese Eignung geklärt ist und die Bewerbung abgeschlossen ist, müssen diese Daten in der Regel vernichtet werden. Ausser man würde mit dem Bewerber etwas anderes vereinbaren.»
Der Stellensuchende ist immer am kürzeren Hebel und abhängig von der Firma. Das Unternehmen muss also auf der Webseite und im Bewerbungsprozess über die Nutzung künstlicher Intelligenz informieren. «Seine Einwilligung ist rechtlich nicht nötig. Deshalb muss der Kandidat abschätzen können, was das System an Daten erfasst und zu welchen Zwecken sie bearbeitet werden», sagt der Datenschützer.
Bewerber haben also das Recht auf vollständige Transparenz. Und dies ist auch nötig, da Künstliche Intelligenz in den Bewerbungsverfahren bereits jetzt Realität ist.
10vor10, 26.02.2020, blac