«Ich esse möglichst gesund und möglichst kein Fleisch», sagt die Flughafen-Angestellte Sabine Oggenfuss.
Und Daniel Ruckstuhl von SAP Schweiz: «Ich schaue darauf, wie es angerichtet ist, was die Zutaten sind und woher das Essen kommt. Das ist mir wichtig.»
Sie sind zur Eröffnung der neuen Kantine im Büro- und Geschäftskomplex «The Circle» am Flughafen Zürich gekommen. Bisher haben sich Angestellte der Unternehmen Raiffeisen, SAP oder Novo Nordisk, die dort im Frühjahr Büros bezogen haben, über Take-Away verpflegt. Ein Angestellten-Restaurant gab es nicht.
Wir erleben einen Blick in die Zukunft.
Auch wenn an diesem Tag mit 330 Gerichten mehr verkauft werden als erwartet, rentiert es sich für die Kantinen-Betreiberin kaum. Das Potenzial wäre an diesem Standort deutlich höher, aber viele Angestellte weilen weiterhin im Homeoffice.
Dort haben sie in den vergangenen 18 Monaten das heimische Kochen neu entdeckt. Jetzt bringen sie ihre gestiegenen Ansprüche ans Essen mit in die Firmen-Restaurants.
Trends, die schon vorher zu beobachten waren, haben durch die Pandemie eine Beschleunigung erfahren: Gesund muss das Essen sein, bio, regional, wenig Fleisch – und all das bitte zeitlich und örtlich so flexibel wie möglich.
Hanni Rützler ist eine international gefragte Ernährungs-Wissenschafterin und Food-Trend-Forscherin.
Ging es einst ums Sattmachen der Belegschaft mit einem Gericht, sei Essen heute zum Ausdruck der eigenen Individualität geworden.
Sie sagt: «Wir erleben jetzt mit Corona einen grossen Blick in die Zukunft. Das Essen wird spontaner werden, es wird unberechenbarer werden. Und die Bedürfnisse werden vielfältiger. Das ist sehr herausfordernd.»
Gemüse im Firmengarten anbauen
Viele Schweizer Unternehmen suchen derzeit neue Wege, um ihre Angestellten kulinarisch zufriedenzustellen.
- Swisscom testet in Zürich Selbstbedienungsshops, die rund um die Uhr geöffnet sind.
- ABB und Roche beliefern seit dem Lockdown die Angestellten im Homeoffice, wenn sie es wünschen.
- Und Google führt seine Kochkurse, die der Tech-Konzern schon länger anbietet, seit der Pandemie auch online durch.
- Ebenfalls bei Roche kann man der Gartenarbeit frönen und Gemüse anbauen, das dann in der Kantine verwendet wird.
Vor allem die letzten beiden Beispiele zeigen, dass es inzwischen um viel mehr geht als um Verpflegung.
Laut Hanni Rützler haben diese Unternehmen verstanden, dass sie über das Essen die Bindung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum Unternehmen stärken können.
Ein starker Dialog zu den Mitarbeitenden sei hilfreich. Hanni Rützler meint: «Sehr erfolgreich sind Konzepte, bei denen schon im Vorfeld zu sehen ist, woher die Produkte kommen. Sei es ein eigener Garten oder seien es Kooperationspartner, die immer wieder sichtbar werden.»
Investieren mitten in der Krise
Die neuen Wege, die Unternehmen gehen, sind für Kantinenbetreiber wie die SV Group anspruchsvoll. Denn sie stecken in der grössten Krise ihrer Geschichte.
Während des Shutdowns im vergangenen Jahr war die Hälfte der Kantinen der SV Group geschlossen. Aktuell haben 80 Prozent der Firmen-Restaurants ihre Türen wieder geöffnet; jedoch oft mit reduziertem Angebot angesichts weniger Gäste. Die Auslastung liege derzeit bei 50 Prozent.
Entsprechend ist der Umsatz der grössten Schweizer Kantinenbetreiberin eingebrochen. «Wir leben immer noch ganz klar von der Substanz, es ist nach wie vor schwierig», sagt Yvonne Wicki, die den Bereich Gemeinschaftsgastronomie bei der SV Group leitet.
Dennoch müssen Kantinenbetreiber den neuen Wünschen gerecht werden, um nicht obsolet zu werden. So hat die SV Group während des Shutdowns einen Lieferservice aufgesetzt. Er ist vor allem für kleinere Firmen gedacht, die keine Kantine haben. Oder für Unternehmen, die ihr Restaurant weiterhin geschlossen halten mangels Gästen.
Und die SV Group ist in den Markt der Verpflegungskühlschränke eingestiegen. Daraus können sich Angestellte rund um die Uhr selbständig bedienen.
Eine App öffnet den Kühlschrank und eine intelligente Technologie erkennt, was der Angestellte entnommen hat. Der Betrag wird automatisch abgebucht.
Die Nachfrage nach unbedienten, flexiblen Konzepten ist ganz klar da.
Der Umsatzanteil des Lieferservices und der Kühlschränke ist noch so klein, dass die SV Group ihn nicht kommunizieren möchte. Und auf dem Gebiet der Verpflegungskühlschränke gibt es bereits einen Marktführer namens «Felfel».
Das Start-up «Felfel» betreibt inzwischen rund 500 Kühlschränke. Es hat einen Pandemie-Effekt verzeichnet und seit April 20 Prozent mehr Aufträge erhalten. Die SV Group hat erst wenige Dutzend Kühlschränke ausgeliefert, obwohl sie auch bereits knapp zwei Jahre damit auf dem Markt ist. Dennoch rechnet sie sich Chancen aus.
Yvonne Wicki sagt: «Die Nachfrage nach unbedienten, flexiblen Konzepten ist ganz klar da. Das merken wir auch, wenn wir mit unseren Kunden, den Arbeitgebern, reden, die vielleicht jetzt ein grosses Restaurant haben und eine neue Lösung suchen.»
Sie macht sich aber keine Illusionen: Auch die neuen Kanäle wie Lieferservice oder Selbstbedienungskühlschrank werden die ausbleibenden Kantinengäste nicht ausgleichen können.
Die SV Group geht davon aus, dass sie künftig noch 80 Prozent ihres einstigen Umsatzes in der Gemeinschaftsgastronomie erreichen kann. Vermutlich ist das noch zu optimistisch.
Betriebliche Esskultur ist Wertschätzung der Mitarbeiter.
Investitionen in flexiblere Verpflegungsangebote werden sich dennoch lohnen. Ernährungs-Wissenschafterin Hanni Rützel sagt: «Betriebliche Esskultur ist eine Ausdrucksform für die Wertschätzung der Mitarbeiter. Und so gesehen ist die Betriebsverpflegung immer ein Schaufenster in die Arbeitskultur.»
Als nächsten grossen Schub sieht sie das Thema Nachhaltigkeit der Kantinen-Anbieter. Die Angestellten werden ein grösseres Augenmerk darauf legen, wie es um die CO2-Bilanz ihrer Kantine steht und was mit den Essensresten geschieht. «Hier kann die Vertriebsverpflegung wirklich einiges in Bewegung setzen.»