Marina Baudet, aus Münsingen BE, hatte keine einfache Jugend. Zwei Jahre lang wohnte sie in einem Heim, mit 16 Jahren wurde sie heroinabhängig. Nach mehreren Entzugsprogrammen kam sie von den Drogen los. Sie liess sich zur Fachfrau Gesundheit ausbilden.
Sie hat alles aufgegleist, um neu anfangen zu können. «Wenn jetzt nur nicht noch die Geldprobleme da wären», sagt sie.
Wenig Hilfe vom Staat
Marina Baudet hat fast 30'000 Franken Schulden. Die Alleinerziehende arbeitet heute 60 Prozent. Das reicht für sie und ihre Tochter fast zum Leben – aber nicht ganz.
Die Sozialhilfe unterstützt sie noch mit rund 600 Franken pro Monat. Ihre Schulden übernimmt sie aber nicht. Jedes Jahr kommen 3’500 Franken Steuerschulden dazu, weil Baudets Antrag auf Steuerlass abgelehnt wird. Das Steueramt des Kantons Bern erlässt Verschuldeten keine Steuern.
In der Schweiz sind rund zwei Drittel der Sozialhilfebezüger verschuldet. Diese leben am Existenzminimum. Für sie gibt es keine Entschuldungsmöglichkeit.
Mehr Hilfe in Frankreich
Ganz anders in Frankreich. Dort können überschuldete Personen ihre finanzielle Situation bei einer Entschuldungskommission offenlegen. Die Kommission unter der Federführung der Zentralbank sistiert Betreibungen, erstellt Abzahlungspläne und erlässt teilweise auch Schulden.
Im letzten Jahr hätten auf diese Weise drei Viertel der Schulden zurückbezahlt werden können, sagt Stéphane Tourte, Direktor der Entschuldungsprogramme für Privatpersonen, beim Rest hatten die Gläubiger das Nachsehen. Die Kommission suche nach der besten Lösung für alle Beteiligten. Bei Menschen, die nichts zurückbezahlen können, würden die Schulden unter Umständen ganz gestrichen.
Anreize schaffen
Auch in vielen anderen Ländern gibt es Entschuldungsverfahren. Sie werden heute kaum mehr in Frage gestellt. Die Schweiz ist eine Ausnahme. Auch der Bundesrat hat nun den Handlungsbedarf erkannt, und schlägt ein sogenanntes Entschuldungsverfahren vor (siehe Box).
Bettina Seebeck von der Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe begrüsst den Vorschlag des Bundesrats. «Wir gehen davon aus, dass mehr Leute integriert werden könnten,» sagt sie. Verschuldete hätten dann mehr finanzielle Anreize, sich aus der Sozialhilfe rauszuarbeiten.
Nicht alle sind begeistert
Eine zweite Chance für arme Verschuldete wäre auch im Interesse der Gläubiger. Für Barbara Steinemann, Nationalrätin SVP/ZH, ist das keine Lösung. «Schulden zu machen, darf sich nicht lohnen», sagt sie.
Schulden zu machen, darf sich nicht lohnen.
Man finde mit den Gläubigern Lösungen, auch für Sozialhilfebeziehende, berichtet Steinemann von ihren Erfahrungen als Juristin bei der Sozialbehörde Regensdorf. Ein neues nationales Verfahren verursache nur unnötig bürokratischen Aufwand. Für die Betroffenen könnten in den Gemeinden schneller Lösungen gefunden werden.
Dass es nicht ganz so einfach ist, zeigt auch der Fall von Marina Baudet: Ihre Steuerschulden wachsen, gerade weil sie arbeitet. Ihr gäbe ein Entschuldungsverfahren neue Perspektiven: «Es würde mir eine Last von den Schultern nehmen», sagt sie.
In fast jedem anderen Land in Europa hätte Marina Baudet eine vom Gesetzgeber garantierte Chance auf einen Neuanfang. Nicht aber in der Schweiz.