«Ich höre etwa bei Menschen, die ich in der Freiwilligenarbeit interviewe: Wissen Sie, für mich ergibt das hier Sinn. Und wenn es das nicht mehr wäre, dann würde ich es aufgeben», sagt Theo Wehner. Der emeritierte Professor für Arbeitspsychologie der ETH Zürich untersucht seit Jahrzehnten, wie Arbeit auf das Individuum einwirkt. In der Freiwilligenarbeit, die der Einzelne ja ohne Bezahlung verrichtet, zeigt sich in seinen Augen die Essenz der Arbeitens: Es erfüllt uns dann, wenn es sinnvoll erscheint.
Nicht zufällig sind Angestellte in der Life-Science- und Pharma-Branche am zufriedensten (88 Prozent). Das zeigt eine aktuelle EY-Studie, für die 1000 Arbeitnehmer in der Schweiz befragt wurden. Die Gesellschaft ist sich darin einig, dass es gut ist, die Gesundheit zu erhalten. Daher finden die Pharma-Angestellten laut Theo Wehner Sinn in ihrem Tun.
Dagegen bezeichnet sich in der Finanzbranche nur jeder Dritte als zufrieden (33 Prozent). Im Jonglieren mit Zahlen Sinn zu erkennen, scheint keine einfache Aufgabe. Kompensiert wird das in der Branche mit Geld: mit hohen Löhnen und zusätzlichen Boni. Ein hoher Lohn aber wird auf die Frage, was am meisten motiviert, erst an vierter Stelle genannt – nach einem guten Verhältnis zu den Kollegen, einer spannenden Tätigkeit und günstigen Arbeitszeiten.
Schweizer Arbeitnehmer zufrieden, aber resigniert
«Sinn ist sicher die am grössten vernachlässigte Kategorie», sagt Theo Wehner, «Ich höre in der Arbeitswelt häufig im mittleren Alter: ‹Ach, zufrieden kann man hier schon sein›. Das ist aber schon resignativ.» Dies sei auffallend in der Schweiz. Zwar bezeichnen sich in Umfragen regelmässig 90 Prozent der Arbeitnehmer als «zufrieden» oder «eher zufrieden» mit ihrer Arbeit. Viele hätten aber das Gefühl, nichts an ihrer Situation ändern zu können – und sind so nicht wirklich zufrieden und letztlich kein produktiver Gewinn für das Unternehmen.
Wichtig sei zu wissen, dass man den Sinn in einer Sache selbst finden müsse. «Dafür finden Sie keinen Stellvertreter», sagt Theo Wehner. «Das Human-Resources-Management wird keine Beiträge zur Sinnsuche bei den Mitarbeitern leisten können. Sie können die Bedingungen beeinflussen, sie können an den Belastungsmomenten arbeiten – das sollten sie viel stärker tun –, aber die Sinnkonstruktion müssen sie dem Einzelnen überlassen.»
Allerdings ist das kein leichtes Unterfangen in unserer arbeitsteiligen Gesellschaft. Sinn zu finden in einem kleinteiligen Bereich sei schwierig. Je ganzheitlicher eine Aufgabe ist, desto eher empfinden wir sie als sinnvoll. Ärzte etwa finden ihren Beruf häufig bereichernd, weil sie die Patienten von der Diagnose über die Behandlung bis zur Genesung begleiten.
Weshalb wir bleiben oder gehen
Gleichwohl sind die Arbeitsbedingungen im medizinischen Bereich oftmals weit vom Ideal entfernt. Ob es uns an unserem Arbeitsplatz gut geht, ist von weiteren Faktoren abhängig, die wenig mit dem Inhalt der Arbeit zu tun haben.
Das Wirtschaftsmagazin «ECO» hat Zuschauer befragt und Strassenumfragen durchgeführt. Dabei haben sich Themenbereiche herauskristallisiert, die auch die Wissenschaft anführt.
1. Belastung
«Arbeitsverdichtung ist die Belastungsform der Neuzeit, und die Bewältigungsmöglichkeiten nehmen immer mehr ab», sagt Theo Wehner. Der Mensch brauche nach Belastung eigentlich eine Phase der Erholung, «so etwas wie ein Ausatmen, ein kurzes Innehalten», so Wehner. «Das kann ich aber gar nicht, weil der Stapel auf dem Schreibtisch so hoch ist. Und dadurch erlebe ich, dass die Welt so stressig geworden ist.» Besonders verheerend ist laut der Wissenschaft die Kombination aus übermässiger Belastung und geringem Handlungsspielraum.
2. Flexibilität
Können wir unsere Arbeitszeiten oder –orte flexibel gestalten, so kommt das unserer Art zu leben entgegen. «Ich habe verschiedene Rollen im Leben», erklärt Theo Wehner, «und ich muss eine Vereinbarkeit zwischen diesen verschiedenen Lebensbereichen finden». Warum solle ein Angestellter nicht morgens zwei Stunden da sein, dann drei Stunden weg sein und dann wieder fünf Stunden anwesend sein? Allerdings stünden wir erst am Anfang dieser Entwicklung. Das liege nicht nur an den Unternehmen: Unter Kollegen sei man oftmals noch nicht bereit, diese Freiheiten den anderen zuzugestehen.
3. Humor
«Humor ist, wenn man trotzdem lacht», sagt Theo Wehner und hält ihn für eine bedeutende Kategorie für unsere Zufriedenheit am Arbeitsplatz. Er sei eine Kunst, eine Stärke, mit der man Arbeitsbedingungen, die nicht ideal seien, ausgleichen könne. Mit Humor gelinge es uns, uns ein Stück weit von der Arbeit zu distanzieren und gleichzeitig das zu leisten, was von uns erwartet werde.
4. Kommunikation
«Wir gehen zur Arbeit, um gute Dienstleistungen zu erbringen, ja. Um unsere Kompetenzen zu verbessern, ja – das macht zufrieden. Aber auch, um einen sozialen Kontakt zu haben», sagt Theo Wehner. Der Computer sei kein Sozialpartner, «auch wenn er manchmal angeschimpft wird». Vielfach finde die Kommunikation heute in informellen Räumen statt. Werde zu wenig kommuniziert, «kann man darunter sehr schnell und sehr gravierend leiden».
5. Wertschätzung
«In den Mitarbeiterbefragungen sehen wir deutlich: Es ist das Item, das am schlechtesten bewertet wird», sagt Theo Wehner als Essenz aus seinen Forschungen. Mangelnde Anerkennung sei typisch für unsere Gesellschaft. Dass Chefs und auch Mitarbeiter die Arbeit der anderen zu wenig wertschätzen, liege vor allem an Unwissen: «In Anerkennung steckt ja das Wort ‹Kennen›», erklärt Theo Wehner. Es gäbe eine ganze Reihe an Vorgesetzten, die gar nicht mehr wüssten, was sie an der Arbeit ihrer Angestellten wertschätzen sollten. So fehlt uns die Gewissheit, dass unser Beitrag zur Gesellschaft anerkannt wird.
Interview: Reto Lipp